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Statistik zu ObdachlosenDeutschland sucht die Wohnungslosen

2022 soll gezählt werden, wie viele wohnungslose Menschen in Deutschland leben. Darüber debattiert nun der Bundestag.

Wohnungslose im Berliner U-Bahnhof Lichtenberg Foto: Karsten Thielker

BERLIN taz | Wie zählt man Wohnungslose? Was sich nach einer einfachen Frage anhört, ist in der Praxis methodisch kompliziert. Das Land Berlin hat sich für eine umfassende Zählung entschieden. Rund 1.600 Freiwillige werden dort am 29. Januar ausschwärmen, um Menschen ohne Wohnung im öffentlichen Raum zu zählen. Davon erhofft sich die Senatsverwaltung für Soziales Daten, um Hilfe zukünftig genauer steuern zu können. Bisher reichen die Schätzungen von 2.000 bis 20.000 Wohnungslosen in der Hauptstadt.

Ohne Probleme ist die Zählweise nicht: Doppelzählungen, etwa wenn sich ein Wohnungsloser während der Zählung von einem Ort zu einem anderen bewegt, sollen zwar vermieden werden. Da die Betroffenen aber nicht nach ihrem Namen gefragt werden, können sie nicht ausgeschlossen werden. Und gefährliche Orte sind von der Zählung ausgenommen. Im Tiergarten hatte 2017 ein Wohnungsloser eine Frau ermordet. Eine Gruppe von Wohnungslosen in dem Park war dem Bezirksamt seit langem als aggressiv bekannt gewesen.

Bisher kümmern sich nur einige Bundesländer um verlässliche Daten zu Wohnungslosen, bundesweite Daten fehlen. Das soll ein Gesetzentwurf der Bundesregierung ändern, der am Donnerstag im Bundestag auf der Tagesordnung steht. Am Montag unterstützten ihn in einer Expertenanhörung die zuständigen Fachverbände von der Caritas bis zum Paritätischen Wohlfahrtsverband grundsätzlich.

Kritik gab es an Details: Die Daten, die erstmals am 31. Januar 2022 erhoben werden sollen, beschränken sich auf Wohnungslose in Unterkünften. Das vereinfacht die Zählung, erfasst aber ausgerechnet diejenige Gruppe nicht, die die Wohnungslosigkeit am stärksten trifft. Die „klassische Kerngruppe“ der Wohnungslosen – also die, die auf der Straße leben – nicht einzubeziehen, sei nicht nachvollziehbar, argumentierte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG).

Birgit Fix (Caritas) sprach von einem „Einstieg in die Statistik“, der mit dem Gesetz erfolge. Sie kritisierte, dass auch Personen, die zwar wohnungslos, aber nicht obdachlos sind, von der Erhebung nicht erfasst würden – also Menschen, die aus ihrer Wohnung ausziehen mussten, aber bei Freunden oder Bekannten untergekommen sind. Sie in einer Statistik zu erfassen, sei zum Beispiel über die Abfrage bei Beratungsstellen möglich.

Auf die Kritik der Experten reagierten Union und SPD im zuständigen Sozialauschuss mit einem Ergänzungsantrag: So soll im ersten Wohnungslosenbericht 2022 die Ausweitung der Datenerhebung auf Wohnungslose, die auf der Straße oder bei Freunden leben, geprüft werden. Der Gesetzentwurf sei „ein wichtiger Schritt, der noch nicht ausreicht“, sagte Wolfgang Strengmann-Kuhn, armutspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, der taz. Seine Partei will ebenso wie Linke und FDP dem Gesetz samt Ergänzungsantrag zustimmen.

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7 Kommentare

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  • Ich halte die Zählung auch für überflüssig. Es gibt in jedem Fall zu viele Wohnungslose und zu wenig echte Hilfe. Dass die Hilfsangebote ausgebaut werden müssen, ist heute schon bekannt. Dafür brauche ich keine Statistik, die noch dazu erst in zwei Jahren (2022!) erhoben werden soll.

    Leider wird wenig darüber berichtet, was denn ausser der Anzahl noch abgefragt werden soll. Offenbar wäre es notwendig, die Menschen anzusprechen, mindestens wohl, um zu bestätigen, ob sie tatsächlich wohnungslos sind. Klingt wie ein einfache Ja-Nein-Frage. Aber darüber hinaus? Dirk Dymarski scheint besorgt, dass die Befragung in irgendeiner Weise belastend sein könnte. Was soll also noch gefragt werden?

    • @Winnetaz:

      Hej Ausblender,

      ich habe nur Informationen zu der Berliner Befragung, aber vielleicht findest du die auch interessant. Neben dem Fakt, ob der Mensch auf der Straße schläft, wird erfragt, wie lange schon, wie alt dieser ist, woher sie*er kommt (DE,EU,andere Länder) und mit wem (Familie, soziale Gruppe, Kinder, Tiere). Ich fände es sehr sinnvoll, wenn darüber hinaus erfasst würde, ob der Mensch auf einen Rollstuhl angewiesen ist, da meiner Erfahrung nach Plätze in Unterkünften, nicht ausreichen, Wärmestube etc. nicht barriere arm geschlattet sind ..



      Viele Grüße

    • @Winnetaz:

      Hej Ausblender,



      neben der Anzahl wird bei der Berliner Zählung noch erfasst, mit wem die Menschen zusammen auf der Straße leben (Familie, soziale Gruppe, Kindern, Tiere), woher sie kommen (DE, EU, andere Länder), wie alt sie sind und wie lange sie schon auf der Straße leben. Sinnvoll fände ich noch ergänzend, wenn man erfassen würde, ob sie im Rollstuhl sitzen oder nicht, da es generell immer zu wenig Unterkunftsplätze, barrierearme Wärmestuben etc. für Menschen im Rollstuhl gibt.

      Liebe Grüße

  • taz: "So soll im ersten Wohnungslosenbericht 2022 die Ausweitung der Datenerhebung auf Wohnungslose, die auf der Straße oder bei Freunden leben, geprüft werden."

    Ist das nicht ein toller demokratischer Sozialstaat (Art. 20 GG), wo man Wohnungslose lieber zählt, statt endlich mal die benötigten Sozialwohnungen zu bauen, die in Deutschland seit Jahren fehlen? In Deutschlands Großstädten fehlen fast zwei Millionen bezahlbare Wohnungen. Allein in Berlin fehlen 310.000 bezahlbare Wohnungen und in Hamburg 150.000 Sozialwohnungen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Stadtsoziologen der Humboldt-Universität Berlin und der Goethe-Universität Frankfurt im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

    Wir haben momentan 678.000 Wohnungslose in Deutschland und 52.000 obdachlose Menschen (laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe). Von welcher "Würde" spricht man in Art. 1 GG eigentlich, wenn 52.000 Menschen bei uns in Deutschland schon obdachlos auf der Straße sitzen? Seit der Wiedervereinigung haben in Deutschland laut BAGW etwa 300 Obdachlose den Winter nicht überlebt.

    Im Grunde kennt man die Zahl der Wohnungslosen und Obdachlosen in Deutschland seit Jahren ganz genau - die Zahl lautet "zu viele". Selbst wenn in diesem reichen Land nur 1000 Menschen obdachlos auf der Straße sitzen würden, dann wären es 1000 Menschen zu viel. Diese Regierung kann immer nur Statistiken in Auftrag geben, aber gegen Armut und Elend wird in diesem Land trotzdem nie etwas gemacht. Aber sicherlich verdienen wieder Leute an dieser Statistik. Auch diese Statistik wird - wie so viele andere Armutsstatistiken - in einem Aktenschrank verschwinden und nichts an der Armut ändern. Unserer Politiker können danach ja wieder darüber diskutieren, wie man es für die Reichen in diesem "Sozialstaat" noch angenehmer machen kann.

  • Die Sterblichkeit bei Obdachlosen ist hoch. Mit 55 ist ein Obdachloser 85. Obdachlosigkeit ist eine Methode des Sozialstaats.

  • Obdachlose müssen wir nicht zählen. Obdachlose können sich melden, sich um eine Wohnung bewerben. Nehmen wir einfach die abgelehnten Wohnungsbewerber, bekommen eine konkrete Zahl für Wohnungslose. Persönlicher Tip, ein falsch ausgefülltes Formuler, sieben Jahre kein Wohnungsrecht. Außerdem habe ich datenschutzrechtliche Bedenken. Wenn bekannt wird, wo sich welche und wie viele Obdachlose aufhalten, schwärmen am Ende bürgerliche Jugendliche aus, machen sich an ihnen schadlos. Eines wollen wir festhalten, mit dem Zählen von Wohnungslosen schaffen wir keine Abhilfe, sondern stellen sicher daß wir welche haben. Wieder einen Haufen Staatsbedienstete in Lohn und Brot gebracht.

  • Erst 2022 mit Wohnungslosen Zählung Ergebnissen aufzuwarten, statt endlich ein bundesweit geltendes Register Wohnungssuchender einzuführen, angesichts fehlend bezahlbaren Wohnraums in Ballungsgebieten, Planungssicherheit für den Wohnungsbau herzustellen, ist n- m- E, eine Unverschämtheit der Politik in Bund und Ländern, dass ich in einem nächsten Stuhlkreis, den ich aufsuche, alle Beteiligten auffordern werde, einvernehmlich solidarisch mit Wohnungssuchenden im Kreis zu kotzen