Sportschützen nach Hanau im Visier: Hier lernt man das Schießen
Nach dem Massaker von Hanau sind die deutschen Schützenvereine erneut in Verruf. Ein Besuch im Dorf Essel bei Hannover.
Dennoch ist Bodo Tegtmeier dieser Tage nicht ganz frei von Sorgen. Das hat weniger mit dem Verein selbst als mit der Sportart zu tun, die hier seit Jahrzehnten ausgeübt wird. Tegtmeier ist Erster Vorsitzender des Schützenvereins in Essel, einem Dorf rund 50 Kilometer nördlich von Hannover.
Seit vor anderthalb Wochen ein rechtsextremer Terrorist in Hanau zehn Menschen erschoss, diskutiert Deutschland nicht nur über Rechtsextremismus, sondern auch über den Ort, an dem der Attentäter Tobias R. das Schießen gelernt hat: den Schützenverein.
In Deutschland gibt es laut Deutschem Schützenbund über 14.200 Schützenvereine mit insgesamt 1,35 Millionen Mitgliedern. Vor allem in den ländlichen Region Bayerns, Baden-Württembergs und Niedersachsens sind sie aus dem Dorfleben kaum wegzudenken. 2015 wurden die Schützenvereine von der Unesco als immaterielles Kulturerbe anerkannt.
Im Fokus von Medien und Politik stehen die Vereine aber vor allem dann, wenn einer ihrer Mitglieder eine Waffe anstatt auf Scheiben auf Menschen richtet. Die Attentäter von Erfurt und Winnenden waren Sportschützen. Ebenso Stephan E., der mutmaßliche Mörder des CDU-Politikers Walter Lübcke, und der 55-jährige Deutsche, der im Juli einen Eritreer in Wächtersbach niederschoss.
Die Debatten, die solchen Anschlägen stets folgen, reichen von der Forderung nach strengeren Waffengesetzen bis hin zur Frage, was das überhaupt soll mit dem Schießsport in Deutschland. Warum werden Schützenvereine nicht rigoros verboten, fragte etwa ein Kolumnist der Frankfurter Rundschau nach Hanau.
Ein Flachbau neben der Pferdekoppel
Wer Bodo Tegtmeier in seinem Schützenhaus in Essel diese Frage stellt, stößt auf Unverständnis. Das Schützenhaus ist ein Flachbau aus Backstein. Obwohl am Dorfrand gelegen – am Ende einer schmalen Straße zwischen Pferdekoppel und Fußballplatz –, sei das Schützenhaus im Grunde das Zentrum von Essel, sagt Tegtmeier. Rund 1.000 Menschen wohnen im Dorf. Der Schützenverein zählt knapp 400 Mitglieder.
Es ist nun nicht so, dass Tegtmeier eine Verteidungsrede auf die Schützenvereine in Deutschland, auf die Traditionen und die Bräuche hält. Er fühlt sich durch diese Debatten weder angegriffen noch verspürt er großen Rechtfertigungsdruck. Sein Unverständnis ist wörtlich zu nehmen. Tegtmeier sieht zwischen dem, was er und sein Schützenverein machen, und Schützen wie Tobias R. schlicht keine Verbindung.
Diese ganzen Diskussionen seien ihm etwas unangenehm, sagt er, weil sie diesen eigentlich schönen Sport, in dem es um Körperbeherrschung und Konzentration gehe, zu Unrecht in Verruf bringen würden. „Man hört da viele Vorurteile raus“, sagt Tegtmeier. Hier in Essel kämen diese Fragen erst gar nicht auf.
Einzuwenden bleibt: Hinterher ist die Überraschung dann immer groß. Man kann die Reaktionen der Schützenvereine auf die Taten von Tobias R. und Stephan E. fast übereinanderlegen. Freundlich, ruhig und zurückhaltend seien sie gewesen. Niemand hätte damit gerechnet.
Tegtmeier zögert nun etwas. Natürlich sieht auch er die Korrelation. Aber genau das sei es eben: eine Korrelation, keine Kausalität. Weder führte ein Umfeld wie das des Esseler Schützenvereins zu einer Radikalisierung noch ziehe es Radikale an. Davon ist er fest überzeugt.
Der Vereinschef schießt nicht, er flötet
Tatsächlich ist Tegtmeier jemand, der die Klischeevorstellung vom breitbeinigen, bierseligen und irgendwie verruchten Schützenverein infrage stellt. Tegtmeier selbst ist gar kein Schütze. Er spielt Querflöte im Spielmannszug des Vereins. Schießt höchstens mal auf Festen, wenn es das Ehrenamt des Vereinsvorsitzenden quasi verlangt.
Und dann beginnt Tegtmeier, der so leise spricht, dass man ihn sich am liebsten ans Ohr halten würde, von seinem Dorf Essel zu erzählen. Ein Ort, der laut Tegtmeier ohne Schützenverein einfach einschlafen würde. Das jährliche Schützenfest an Pfingsten sei mit Abstand das größte Ereignis hier. In guten Jahren würden mehr Menschen kommen, als Essel Einwohner hat.
Bodo Tegtmeier
Auch die großen Lebensereignisse – Geburtstage, Hochzeiten, Trauerfeiern –, sie finden oft im Schützenhaus statt. Eine Kneipe, geschweige denn ein Restaurant, gibt es in Essel schon lange nicht mehr. „Das Schützenhaus ist im Grunde auch das Dorfgemeinschaftshaus“, sagt Tegtmeier.
Man kann bei Tegtmeier nie so genau sagen, wo der Schützenverein aufhört und wo das Dorf anfängt. Wahrscheinlich würde er da auch gar keinen großen Unterschied machen.
Drei Plakate innerhalb des Schützenhauses
Um zu erklären, wie sehr das Dorf mit dem Schützenverein verwoben ist, zeigt Tegtmeier auf drei Plakate im kleinen Veranstaltungssaal des Schützenhauses. Der Raum ist recht karg eingerichtet. Ein paar Holztische und -stühle, eine kleine Bar, an der Wand die Bilder aller bisherigen Vorsitzenden und die Namen der Schützenköniginnen und -könige.
Die Plakate, auf die Tegtmeier deutet, zeigen Fotos sämtlicher Wohnhäuser in Essel. Darunter steht jeweils Name und Adresse. Eine Art Einwohnerregister, das man zur 750-Jahr-Feier des Orts erstellt hat. „Und natürlich haben wir das bei uns im Schützenhaus aufgehängt“, sagt Tegtmeier. Wo sonst?
Die Frage drängt sich auf: Könnte man das alles – die Geselligkeit, den Zusammenhalt, die Feiern –, könnte man das nicht auch ohne das Schießen haben? Es gibt in Essel eine Freiwillige Feuerwehr, einen Fußballverein und einen Reiterhof. Und doch pilgern die Menschen vor allem zum Schießstand. Warum?
Eine Antwort auf diese Frage findet man bei Anna Fischer. Mit zehn hat sie angefangen mit dem Schießen. Heute ist sie 18 Jahre alt und bereitet sich gerade auf die Kreismeisterschaften vor. 50 Schuss feuert Fischer während ihrer Trainingszeit am Dienstagabend aus ihrem Kleinkalibergewehr auf die 50-Meter-Distanz. Nach jedem Schuss setzt sie das Gewehr kurz auf ein Stativ ab und kontrolliert auf dem Bildschirm links neben sich, auf welchem Ring der Schuss gelandet ist. Dann atmet sie durch und setzt neu an.
Zum Verein sei sie durch ihre Eltern gekommen. „Meine ganze Familie schießt ja“, sagt Fischer. Sie ist talentiert, hat an mehreren Deutschen Meisterschaften teilgenommen. Das sei bis heute ihre Motivation: Zu wissen, man könne es an die Spitze schaffen. „Du musst vom Geist und Körper fit sein“, sagt Fischer über die Faszination ihres Sports. „Am Anfang wackelst du viel. Es ist wirklich harte Arbeit, deinen Körper so kennenzulernen, dass er ruhig steht.“ Wenn man nicht wüsste, über was genau Fischer da spricht, könnte man denken, sie mache Yoga.
Beinabstand mit dem Zollstock kontrolliert
Mit ihrem Training ist Fischer heute nicht zufrieden. Zu viele 6er- und 7er-Ringe werden ihr auf ihrem Bildschirm angezeigt. Wer Fischer dabei beobachtet, wie entnervt sie von schlechten Schüssen ist, wie sie versucht, trotzdem konzentriert zu bleiben und wie sie ihren Beinabstand immer wieder an einem auf dem Boden liegenden Zollstock kontrolliert, der merkt auch: Ja, man kann in einem Schützenverein den Umgang mit der Waffe lernen, zum Waffenfanatiker wird man hier eher nicht. Es ist alles in allem eine sehr technische Angelegenheit.
Der Schießsport sei nicht bei allen Schützenvereinen in der Region so professionell, sagt Tegtmeier. Ihr Ansatz sei es, beides möglichst zu verbinden: Geselligkeit und Professionalität. Auch in der Jugendarbeit sei man sehr engagiert, erzählt Tegtmeier. Sein Verein organisiere viele Ferienprogramme und Kinderfeste.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Das Schießen können Kinder hier ab einem Alter von acht Jahren lernen. Dabei kommen keine scharfen, sondern sogenannte Lichtpunktpistolen zum Einsatz. Könnte das nicht sogar eine Lösung für alle sein? Die Forderung, auf schießfähige Waffen zu verzichten und stattdessen Lichtpunktwaffen einzusetzen, taucht nach Attentaten immer wieder auf.
Aber auch das ist eine Forderung, der Tegtmeier mit echtem Unverständnis begegnet: Darüber habe er sich ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht. „Mein Bauchgefühl: Das brauchen wir eher nicht“, sagt Tegtmeier. Die Attentäter der vergangenen Monate hätten schließlich nicht mit Waffen aus den Schützenvereinen geschossen. Und außerdem: Wer eine Waffe wolle, der komme an eine Waffe. Da helfe auch kein Verbot von Sportschießwaffen.
Bis vor das Jüngste Gericht würde er mit dieser Überzeugung jedoch nicht ziehen. Sollte die Lichtpunktpistolen irgendwann Konsens werden im Schießsport, würde er sich dem nicht verschließen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin