Sperrzonen-Chef über Tschernobyl: „Russen haben die Zone vermint“
38 Jahre nach dem GAU ist die Gegend um Tschernobyl immer noch verstrahlt. Durch den Angriffskrieg drohen neue Gefahren, warnt Sperrzonen-Chef Andrij Tymtschuk.
taz: Am 26. April 1986 explodierte Reaktor 4 des nach Lenin benannten Atomkraftwerks bei Tschernobyl. Sie sind Vizechef der staatlichen Agentur, die die Sperrzone um das zerstörte Kraftwerk managt. Wie ist die Lage heute?
Andrij Tymtschuk: Die gefährlichste Strahlung, die 1986 freigesetzt wurde, ist heute abgebaut, Spaltelemente des Cäsiums haben beispielsweise eine Halbwertszeit von 30 Jahren. Dennoch ist ein Gelände mit einem Radius von 30 Kilometern um das Kraftwerk noch viele hunderte Jahre für den Menschen unbewohnbar. Deshalb gelten auch spezielle Gesetze und Regeln in dieser Zone.
ist Vizeleiter der Staatlichen Agentur zur Entwicklung und Verwaltung der Sonderwirtschaftszone rund um das havarierte AKW.
Trotzdem arbeiten immer noch tausende Menschen in diesem Sperrgebiet. Warum?
Weil wir sie brauchen. Es gibt insgesamt zehn staatliche Unternehmen, die aktuell 4.800 Menschen in der Zone beschäftigen. Mit 2.500 Mitarbeitern ist die Firma der größte Arbeitgeber, die sich dem Rückbau des Kraftwerks widmet – aktuell der Blöcke 1 bis 3. Zweitgrößter ist eine Firma, die sich um die Zwischenlagerung der radioaktiven Abfälle kümmert. Drittens gibt es Radon-Enterprice, ein Staatsunternehmen, das Technik und Know-how für radioaktive Unfälle in der Ukraine und darüber hinaus bereithält.
Eine Art Feuerwehr für Atomunfälle?
Das könnte man so sagen! Die Firma Ecocenter Enterprice entwickelt zum Beispiel Verfahren zur Analyse von Radioaktivität und kontrolliert diese im ganzen Land. Kurz gesagt: Wir haben in der Zone um Tschernobyl ein atomares Kompetenzzentrum geschaffen.
Bei ihrem Überfall auf die Ukraine sind russische Truppen ausgerechnet durch diese Zone auf Kyjiw vorgerückt.
Das stimmt, der Angriff von belarussischem Staatsgebiet aus sollte wohl einen besonderen Überraschungsmoment kreieren.
Was wurde in ihrem Kompetenzzentrum zerstört?
So ziemlich alles: Straßen, Gebäude, Spezialfahrzeuge, Server, Computer, Dosimeter – die Liste ist lang. Unseren Erhebungen zufolge belaufen sich die Schäden auf mehr als 100 Millionen Euro. Der einschneidendste Verlust war aber die Bahnstrecke von Tschernobyl nach Slawutytsch.
Das ist jene Stadt, in der viele der Arbeiter von Tschernobyl wohnen. Was sind die Konsequenzen?
Slawutytsch wurde nach dem Reaktorunglück auf einem unverstrahlten Flecken Erde gebaut, per Zug war man in 30 Minuten im Kraftwerk. Allerdings ging die Strecke über belarussisches Staatsgebiet. Jetzt nach dem Überfall und der Zerstörung müssen unsere Leute außen herum fahren, und das dauert 7 Stunden – eine Strecke wohlgemerkt! Deshalb haben wir in der Stadt Tschernobyl einige alte Häuser renoviert und Unterkünfte geschaffen. Die Mitarbeiter wohnen und arbeiten da jetzt ein paar Tage, bevor es wieder nach Hause geht.
Die Russen haben mit ihren Panzern die Erde umgepflügt und Stellungen gegraben. Wie viel der im Boden gebundenen Radioaktivität wurde dabei frei?
Erhebliche Mengen, wie unsere Messungen ergeben haben. Zwar ist einiges davon mittlerweile durch Wind und Wetter weitergetragen und in der Umwelt verdünnt worden. Wir haben aber spezielle Kontrollen eingeführt und halten ein Dekontaminierungsprogramm bereit für den Fall, dass ein Fahrzeug oder ein Waldstück zu hohe Strahlungswerte aufweist. Ein anderes Problem macht uns mehr zu schaffen: Die Russen haben Teile der Zone vermint, auch Blindgänger liegen überall rum. Diese Gefahr sicher zu bannen wird eine größere Herausforderung werden.
Ihr Job ist es, die Sonderwirtschaftszone nicht nur zu verwalten, sondern auch zu entwickeln. Was sind die wichtigsten Aufgaben, die anstehen?
Natürlich der Rückbau des havarierten Reaktors 4. Über dem sorgt seit 2019 eine neue Hülle dafür, dass die Radioaktivität nicht in die Umwelt gelangen kann. Aber so kann die Ruine natürlich nicht bleiben: Wir wollen in den nächsten zwei Jahren ein Verfahren entwickeln, wie wir sie zerlegen und entsorgen können, um dann 2030 den Reaktor samt Gebäude in seine Einzelteile aufgelöst zu haben.
Es gibt auch Pläne für große Solar- und Windparks im Sperrgebiet.
Mehrere gleich! Einige davon sind bereits sehr weit fortgeschritten, die deutsche Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat uns im vergangenen Jahr beispielsweise die deutsche Firma Notus als Partner für 1.000 Megawatt Windleistung vermittelt. Solche Projekte sind ungemein wichtig, weil die Russen die Hälfte aller Kraftwerke in unserem Land zerstört haben und wir spätestens im kommenden Winter nicht mehr genug Energie erzeugen können. Andererseits sind solche Vorhaben jedoch schwer zu realisieren, solange die Russen uns beschießen. Natürlich sind wir dankbar für solche Partnerschaften. Bevor die zum Tragen kommen, brauchen wir aber zunächst einmal Waffen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“