Soziologin über Klassengesellschaft: „Man rennt dauernd gegen Schranken“
Viel Applaus – wenig Veränderung. Die Göttinger Soziologin Nicole Mayer-Ahuja über die Situation der verkannten Leistungsträger:innen.
taz: Wer sind die verkannten Leistungsträger:innen, über die Sie in Ihrem Buch schreiben, Frau Mayer-Ahuja?
Nicole Mayer-Ahuja: Das sind diejenigen, die den Laden am Laufen halten, wie Angela Merkel das so schön gesagt hat. Die mit der Reproduktion von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Strukturen befasst sind – sei es in der Pflege oder Erziehung, bei der Zurverfügungstellung von Lebensmitteln, beim Transport von Paketen, bei der Reinigung von Gebäuden.
Inwiefern sind sie verkannt?
Weil sie gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten und dafür mit relativ geringen Löhnen und einigermaßen zweifelhaften Arbeitsbedingungen abgespeist werden. Sie haben unsichere Verträge und Erwerbsbiografien, in denen sie sich von einem Job zum anderen hangeln und keine Lebensplanung entwickeln können. Und ein großes Thema ist die geringe Anerkennung für die Tätigkeiten.
Es sind Tätigkeiten, die uns aus unseren Alltagsbedürfnissen vertraut sind, anders als etwa die einer Hedgefondsmanagerin. Warum werden gerade die verkannt?
Ich glaube, dass sich die Bedeutung ein Stück weit in der Pandemie herumgesprochen hat. In einem Interview, das ziemlich eingeschlagen hat, sagte ein Betriebsrat von VW: Wenn wir zwölf Wochen keine Autos bauen, dann merkt das kein Mensch; wir sind nicht systemrelevant. Die Tätigkeiten, über die wir gerade gesprochen haben, hingegen schon.
Warum bleiben sie dann prekär?
48, ist Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Gemeinsam mit Oliver Nachtwey hat sie 2021 das Buch „Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft“ herausgegeben.
Leistung wird inzwischen an anderen Kriterien festgemacht. Zum Beispiel spielt der gesellschaftliche Nutzen einer Tätigkeit eine sehr viel geringere Rolle als die Möglichkeit, damit Gewinne zu erzielen. Und der Aufwand, den man mit einer Tätigkeit treibt, der früher immer ein ganz klassisches Kriterium für die Leistungsbeurteilung war, spielt jetzt eine viel geringere Rolle. Im Grunde genommen geht man davon aus, wenn jemand Geld und hohes gesellschaftliches Ansehen hat, dann wird er oder sie schon etwas geleistet haben.
Wie ist die Selbsteinschätzung der verkannten Leistungsträger selbst?
Sie haben durch die Bank einen sehr hohen Anspruch an ihre Arbeit. Sie haben auch ein Gefühl dafür, dass es ein Missverhältnis gibt zwischen dem, was sie leisten und dem, was sie vom Unternehmen an gesellschaftlicher Anerkennung zurückbekommen. Teilweise sind die Interviews im Buch anrührende Geschichten von Frauen, die sich verantwortlich fühlen für die Kunden, aber vom Unternehmen so enge Vorgaben bekommen, was Arbeitszeitkontingente oder Personalbemessung angeht, dass sie ihre eigenen Standards von guter Arbeit gegen das Unternehmen durchsetzen müssen.
Was hält sie bei der Stange?
Mi, 4. 5., 20 Uhr, Literaturhaus Hannover (mit Frédéric Valin);
Mi, 8. 6., 19 Uhr, St.-Petri-Kirche, Hamburg (mit Magdalena Schrefel)
Ich fand den Bericht von Susanna Höfer über eine junge Frau sehr interessant: Die nimmt als Auszubildende im Sicherheitsgewerbe sehr unattraktive Arbeitszeiten und eine sehr geringe Bezahlung in Kauf, weil sie diese Berufsausbildung will und damit alle möglichen Hoffnungen verbindet: auf Aufstieg, auf mehr Anerkennung durch den Kunden. Sie will die Fachkraft sein, die der Gesellschaft Sicherheit bringt. Und gleichzeitig sieht man, dass die Strukturen, in denen sie sich bewegt, diese Hoffnungen enttäuschen müssen.
Inwiefern?
Es gibt nicht genug Arbeitsplätze für ausgebildete Sicherheitsfachkräfte. Sie quält sich jetzt drei Jahre und wird anschließend mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den selben Bedingungen arbeiten wie diejenigen, die die Ausbildung nicht gemacht haben. Deswegen heißt unser Buch im Untertitel „Berichte aus der Klassengesellschaft“. Das ist die Erfahrung, durch die sozioökonomische Position, die man hat, ein Stück weit festgebunden zu sein. Man versucht weiter zu kommen und rennt doch andauernd gegen Klassenschranken. Womit wir dann über politische Maßnahmen der letzten Jahrzehnte reden müssen, die dazu geführt haben.
Nämlich?
Dass die Unternehmen oft nicht mehr den Preis für soziale Sicherung zahlen, dass sie flexibel befristen und kündigen können. Dieses Machtverhältnis wird nicht verändert; im Gegenteil, wir haben eine Vermögenssteuer, die seit sehr vielen Jahren nicht erhoben wird.
Wenn Sie von Klassen sprechen, denkt man historisch an eine organisierte Arbeiterschaft, die für ihre Interessen kämpft. Gibt es bei den verkannten Leistungsträger:innen Ansätze, sich zu wehren?
Insgesamt sind die Bedingungen, sich zusammenzuschließen, in diesen Teilen der Arbeitswelt besonders schlecht. Wir haben einen hohen Anteil von Frauen und migrantischen Beschäftigten, die es traditionell schwerer gefunden haben, sich zu organisieren. Es gibt strukturelle Probleme, etwa bei Putzkolonnen: wir haben Reinigungsfirmen, die 10.000 Beschäftigte haben, die sich im Arbeitsalltag aber nie treffen, weil man in einzelnen Objekten arbeitet oder es hohe Fluktuation gibt. Da tut man sich schwer, sich mit Kolleg:innen zusammenzuschließen. Am anderen Ende des Spektrums haben Sie die Pflege, wo es in den letzten Jahren gelungen ist, mit der liebgewordenen Annahme, dass Pflegende nicht streiken, zu brechen.
Wie kam es dazu?
Man hat immer gesagt, dass Leute in personenbezogenen Dienstleistungen nicht streiken, weil sie mit einem Streik das Gegenüber, also hier die Patient:innen, treffen würden. Seit dem Streik an der Berliner Charité sieht die Argumentation völlig anders aus: Die Kolleg:innen dort haben gesagt: „Mehr von uns ist besser für alle“, das heißt: wir müssen unsere Arbeits- und Lohnbedingungen verbessern, damit wir die Pflegequalität sicherstellen können.
Wie ist Ihre Prognose – wird sich auch in anderen Bereichen etwas ändern?
Ich komme gerade von einer Veranstaltung für die IG BAU Reinigung, wo die Kolleg:innen erzählen, dass die Frauen nicht streiken, weil sie sich mit dem Objekt, mit dem Kunden identifizieren und sagen: „Ich kann doch hier die Räume nicht dreckig lassen“, zumal in einem Krankenhaus. Da wäre so eine Umwertung wie in der Pflege unheimlich wichtig. Wir sehen aber in anderen Bereichen Arbeitskämpfe, etwa bei den Lieferdiensten, wo viele junge Leute, größtenteils mit migrantischem Hintergrund, nur für eine kurze Zeit arbeiten. Sie organisieren sich, obwohl die Lage objektiv sehr schwierig ist. Aber teilweise gelingt es.
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