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Soziologe über Deutschtürken„Erdoğans Fans nicht überschätzen“

Erdoğans Anhänger in Deutschland sind zwar laut, aber eine Minderheit, sagt der Soziologe Özgur Özvatan. Er warnt vor pauschaler Verurteilung.

Freude auf dem Ku'damm über den Wahlsieg Erdoğans Foto: Omer Messinger/getty images
Stefan Reinecke
Interview von Stefan Reinecke

taz: Herr Özvatan, warum haben mehr als zwei Drittel der Deutschtürken Erdoğan gewählt?

Özgur Özvatan: Das stimmt so nicht. Es gibt ungefähr drei Millionen Türkeistämmige. Etwa 1,5 Millionen waren wahlberechtigt, etwa 730.000 haben abgestimmt und davon etwa 470.000 für Erdoğan. Das sind viele Menschen, aber weit entfernt von zwei Dritteln.

Trotzdem – warum haben so viele für Erdoğan gestimmt?

Erdoğan ist in den letzten zehn Jahren immer wieder in Deutschland gewesen. Er hat, was die Aufmerksamkeitsökonomie angeht, gut gearbeitet. Und er hat den Menschen hier das Gefühl gegeben, dass sie zählen, dass er, die Führungskraft, sich für sie einsetzt. Er hat gesagt, er würde die Deutschtürken vor Assimilationsdruck schützen. Damit hat er gepunktet. Die Opposition war hingegen hier kaum öffentlichkeitswirksam präsent.

Im Interview: Özgür Özvatan

Özgür Özvatan

38, arbeitet als Soziologe am Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der HU Berlin.

Hängen das Gefühl, in Deutschland ausgegrenzt zu sein, und Sympathien für Erdoğan zu haben zusammen? Gibt es Belege?

Wir haben keine direkten Daten dafür, dass Rassismuserfahrung in Deutschland Erdoğan in die Hände spielt. Aber Rassismuserfahrungen werden politisch ausgeschlachtet, wenn Präsident Erdoğan über Islamophobie im Westen spricht. Es gibt auch keinen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen geringerer Verbundenheit mit Deutschland und der Wahlentscheidung. Also – nein.

Erdoğan hat eine Autokratie begründet, die Pressefreiheit abgeschafft, die Justiz zu seinem Instrument gemacht. Warum ist das so vielen egal?

Erdoğan kommt auch im Gewand des Antikolonialen daher. Er erweckt den Eindruck, die Türkei von den Fesseln des Westens zu befreien und endlich auf Augenhöhe zum Westen zu sprechen. Er spielt in der internationalen Politik eine relevante Rolle, etwa als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine. Dafür sind einige Diasporatürken, die Diskriminierungserfahrungen erlebt haben, empfänglich. Es erzeugt das Gefühl, endlich ernst genommen zu werden. Seine identitätspolitisch reaktionäre Außenpolitik spricht gleichzeitig Wähler in der Türkei und in der Diaspora an.

Sind Erdoğan-WählerInnen Anhänger des Autoritären – oder übersehen sie die Repression einfach?

Viele halten Illiberalisierung und Repressionen für vorübergehende, notwendige Maßnahmen, um Terrorismus und Unordnung zu beseitigen. Danach werde die Gesellschaft wieder liberaler und offener. Das ist natürlich eine Illusion. Denn die Illiberalisierung der Demokratie unter Erdoğan befindet sich in einer Radikalisierungsspirale.

Es gab Autokorsos von Erdoğan-Anhängern. Cem Özdemir hält diese Demos für eine „Absage an unsere pluralistische Demokratie“. Einverstanden?

Nein. Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns von lauten Minderheiten beeindrucken zu lassen und Problemlagen größer zu machen, als sie sind. Die Autokorsos intendieren mediale Aufmerksamkeit. Aber ich plädiere dafür, jene Mechanismen zu vermeiden, die laute Minderheiten nutzen, um größer zu erscheinen, als sie sind. Sie profitieren davon, als Giganten wahrgenommen zu werden, die sie nicht sind. Wir sollten lieber mehr über die demokratische Opposition in der Türkei und in Deutschland reden.

Glauben Sie, dass scharfe Kritik, wie sie Özdemir formuliert, der Aufklärung nutzt? Oder provoziert dies gerade das Gegenteil: Wir lassen uns doch nicht vorschreiben, wen wir wählen?

Diese Kritik am Wahlverhalten verstärkt bei vielen das Gefühl, im deutschen medialen politischen Diskurs nicht vertreten zu sein. Und Minister Özdemir gilt für viele leider als jemand, der gehört werde, weil er den Deutschen nach dem Mund rede. Klüger, als nur verurteilend über die Erdoğan-Anhänger zu reden, wäre, die Motivlagen unter dem Gesichtspunkt transnationaler Lebensrealitäten zu bewerten. Mit Blick auf die Türkei unter Erdoğan lässt sich die reaktionäre Identitätspolitik sachlich und weniger pauschalisierend kritisieren.

Olaf Scholz hat Erdoğan gratuliert und sofort eingeladen. Ist das die richtige Botschaft?

Deutschland zählt zu den wichtigsten Handelspartnern der Türkei, und die Türkei ist mit Blick auf Migrationsabkommen bisher eine wichtige Partnerin. Das ist die realpolitische Konstellation. Unter hiesigen Erdoğan-Wählern kann es zudem als Heuchelei empfunden werden, wenn sie hier medial scharf verurteilt werden und im gleichen Atemzug Kanzler Scholz Erdoğan nach Berlin einlädt. Für viele Oppositionelle kann die Einladung wie ein Schlag ins Gesicht wirken.

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16 Kommentare

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  • Allein die Überschrift reicht, um Cem Özdemir mehr zu glauben als allen E.-Befürwortern oder -Beschwichtigern. Alles Positive, oder fast alles, was E vor zwanzig Jahren für die Türk:innen Positives getan hat, hat er peu a peu in seinem Machtrausch wieder verspielt.

    • @Sarg Kuss Möder:

      Vor allem hat er das was er vor 20 Jahren Positives in der Wirtschaft triggerte, über schulden finanziert.

      In Euro und Dollar. Die jetzt wieder in Euro und Dollar zurückbezahlt werden müssen.

      Durch Erdogans hausgemachte Inflation hat sich der Preis für die Schulden mehr als verzehnfacht.

      Was für eine Bürde!

  • Als Erdogan 2002 an die Macht kam, war eine Lira noch ca. 51 Cent wert, jetzt sind es noch 4.5 Cent.



    Für in Deutschland lebende Türken ist das von enormem Vorteil, wenn sie Familie in der Türkei unterstützen, oder gar türkische Immobilie kaufen wollen. Auch für alle Import-Händler ist es ein Vorteil.



    Aus rein monitäter Sicht hat Erdogan somit wirtschaftlich gesehen den in Deutschland lebenden Türken Vorteil gebracht.



    Vorsicht: Ich unterstelle hiermit nicht, dass dies deshalb auch viele gut finden.

  • 6G
    665119 (Profil gelöscht)

    Dank an Herrn Özvatan für sein klares "Nein" an die These, dass Erdoganwähler ja nur Notwehr gegen die rassistische deutsche Gesellschaft verüben würden.



    Es gibt hierzulande nicht wenige selbsternannte Linke blasser Hautfarbe und blonder Haarfarbe, die genau diese Überzeugung haben, dass nur Menschen ihrer Farbschattierung zu Rassismus, Nationalismus und Faschismus fähig sind, während diesselbe Ideologie sich bei dunklerer Hauttönung automatisch in "Antiimperialismus" verwandelt.

  • Das Ganze ist schon spannend. Menschen, die hier in D von all den Freiheiten einer liberalen Demokratie profitieren, stimmen bei den Wahlen in der Türkei mehrheitlich für die Abschaffung dieser Freiheiten. Aber da diese Leute ja hier in D leben, kann ihnen das ja egal sein, nicht?

  • "Laute Minderheit" und "keine Pauschalisierung".

    Könnte genauso von der CDU-Sachsen kommen...

  • Es hat auch alles sehr viel damit zu tun, dass der deutsche Staat jahrelang mit der DITIB gekuschelt hat. Wenn man die zB in Köln aus Naivität protzige Moscheen errichten lässt, an der dann in der Türkei ausgebildete Imame den Erdogan-Islam predigen, oder die DITIB als „die“ Repräsentantin „der“ türkischen Muslime akzeptiert und hofiert, braucht man sich doch nicht zu wundern.

    • @Suryo:

      Das Problem mit DITIB hier bei uns hat aber auch viel mit der Diskrepanz zwischen dem laizistischen Staatsverständnis der kemalistischen Türkei und der kulturellen Dominanz der islamisch-sunnitischen Religion (für Aleviten gilt dieser Gegensatz weniger) in der Bevölkerung. So lange die Religionsausübung sich auf das Private beschränkt und keine (macht)politischen Ambitionen verfolgt, ist das kein Problem für den säkularen Staat. Eigentlich ist diese Problematik auch aus Israel bekannt.



      Diese idealtypische, westlichen demokratisch-laizistischen Vorstellungen entspringende Konstruktion von Gesellschaften hat in der modernen Türkei nie funktioniert, es ist kein Thema von 22 Jahren Erdogan-Herrschaft.



      Mit Diyanet, der türkischen Religionsbehörde, erschuf der Staatsgründer Atatürk ein Instrument der Kontrolle und Einhegung des gesellschaftlichen Einflusses des sunnitischen Islam (dieser ist mit Gründung der türkischen Republik ja nicht verschwunden oder wurde radikal bekämpft wie in der Sowjetunion). Aus meiner Sicht ein „Geburtsfehler“, da keine konsequente Trennung beider Bereiche vorgenommen wurde - was in der damaligen Türkei wie auch heute auch gar nicht vorstellbar wäre -, sondern mit der stattlichen Kontrolle über die Moscheen Politik gemacht und von den herrschenden Eliten Einfluss auf die Bevölkerung genommen wurde.



      Heute, unter Erdogan, kann man sagen, dass das Verhältnis sich umgekehrt hat: nicht der Staat beherrscht die Religion, sondern die Religion bzw. der politische Islam (Islamismus) den Staat.



      Sie sehen, wie der Kreis sich hinsichtlich der türkischen Diaspora in Deutschland schließt: DITIB ist ebenso ein Instrument des türkischen Staates, die Kontrolle über die sunnitischen Deutschtürken aufrechterhalten und sie zugleich an die nationalistische Überhöhung des Türkentums zu binden. Nach meiner Meinung - neben dem Rassismus der Aufnahmegesellschaft - eines der Hauptprobleme im Integrationsprozess.

  • Warum wollen Sie abwiegeln und beschwichtigen?



    In diesem Nationalismus sind die Opfer des Erdbebens und die Opfer der Korruption bei der Abzweigung der Erdbebensteuer und -Vorsorge egal.



    Es gibt keine pauschale Verurteilung, sondern pauschale Ehreverteidigung.



    Es gab kürzlich einen guten Artikel von Frederik Eikmanns über die Weltbilder und Motivationen der AKP-Wählenden in Dt. taz.de/Tuerkinnen-...tschland/!5936500/



    "Viele T in Dt. erleben nichts von den Repressionen und vom Erdbeben".



    Das Mobilisierungspotential der Grauen Wölfe sollte nicht unterschätzt werden. Es waren einmal 6000 in Köln und niemand wusste etwas zuvor.



    Fragen Sie Kurd_innen, die Selbstschutz organisieren müssen.

    • @Land of plenty:

      Ja, man kann nicht behaupten, die Deutschtürken müssten die Folgen Ihres Wahlverhaltens nicht erdulden.



      Der repressive, autoritäre Arm des türkischen Staates reicht weit bis nach Deutschland hinein, was von der deutschen Gesellschaft und dem deutschen Staat jedoch gleichgültig-schulterzuckend hingenommen wird, so nach dem Goetheschen Motto: wenn fern hinten in der Türkei die Völker aufeinander schlagen … .



      Im Fall des PKK-Verbots hat sich der deutsche Staat seinerzeit sogar zu einem willfährig-devoten Handlanger nationalistisch-chauvinistischer türkischer Staatsinteressen gemacht.*



      Heute machen es die Schweden, um die Zustimmung des Potentaten vom Bosporus zu ihrem NATO-Beitritt zu erheischen. Abschiebungen türkischer und kurdischer Oppositioneller in die Türkei! (Aber die bayerische CSU möchte ja jetzt auch russische Dissidenten dem Putin ans Messer liefern.) Der Kerl kann mit dem Westen Schlitten fahren, wie er möchte!



      *Das schließt die Kritik an der quasi-stalinistischen Ideologie der PKK, dem Personenkult um Öcalan, der brutalen Eliminierung andersdenkender konkurrierender kurdischer Organisationen sowie der von der PKK ausgehende Gewalt in den Achtziger- und Neunzigerjahren nicht aus. Aber der kurdische Terrorismus ist lediglich eine Antwort auf den jahrzehntelangen türkischen Staatsterrorismus, das darf nicht vergessen werden. Deshalb hielt ich das PKK-Verbot damals für falsch und trete heute erst recht für seine Aufhebung ein.

  • Erdogan sollte für Scholz eine 'persona non grata' sein. Das Problem ist, dass diese Bezeichnung leider auf viele dieser hohen Berlinbesucher zutrifft.



    Sollte er je stattfinden, wird u.a. der unfaire Wahlkampf und die Vielzahl politischer Gefangener und den 'Diplomatentisch' fallen.



    Empfehlenswert der Newsletter von Can Dündar: ozguruz.de/newsletter-de/

  • Es ist schon erschreckend bizarr, wie autoritäre Führer à la Erdogan und Putin ihr altbackenes imperialistisches Großmachtstreben als Antikolonialismus verkaufen. Noch viel schlimmer ist, dass sie sich gewiss sein können, dass Millionen hinter ihnen stehen und nach dem versprochenen Platz an der Sonne lechzen. Das macht die Sache so gefährlich, denn der überschäumende Nationalismus wird auch dann nicht verschwinden, wenn diejenigen abtreten, die derzeit auf seiner Klavieatur spielen. Nichts gegen Diplomatie, aber hoffentlich erschöpft sich die deutschen Außenpolitik nicht erneut in naivem Appeasement. Stattdessen sollte man sich mehr Gedanken darüber machen, wie sich die "verbündete" Türkei einhegen lässt, denn diese tritt im östlichen Mittelmeer immer aggressiver auf, je stärker sie militärisch wird.

    • @melly:

      Ja, zumal es selber (ehemalige) Kolonialmächte sind.

  • Als „laute Minderheit“ könnte man auch 17 Prozent AfD-Wähler bezeichnen.

  • Wenn in Deutschland von 730.000 Stimmen 470.000 für den Machthaber plädieren, also weit mehr als die Hälfte, ist das in meinen Augen keine Kleinigkeit, um sie herunterzuspielen. Und weil Erdogan Eindruck erweckt, “die Türkei von den Fesseln des Westens ..befreien” zu wollen, muss die Frage erlaubt sein: Will/wollte die Türkei “deshalb” in die EU? Bei den BRICS-Staaten ist sie, nebenbei bemerkt, ja auch vorstellig geworden.

    “ Er hat, was die Aufmerksamkeitsökonomie angeht, gut gearbeitet.”



    Allerdings, denn dann dürften laut Medienberichten auch einige Wahlberechtigte mitbekommen haben, welche Art von Strategien der türkische Machthaber bislang anwendet, um seine Position zu etablieren. Letzteres ist nun wirklich nicht als “Kleinigkeit” abzutun.

    Weiter heißt es “Autokorsos intendieren mediale Aufmerksamkeit…. Sie profitieren davon, als Giganten wahrgenommen zu werden, die sie nicht sind.” und man solle sich nicht davon beeindrucken lassen.



    Immerhin war der Grund des Jubels das Wahlergebnis in der Türkei, ob Minderheit oder nicht.



    Die Tatsache, dass noch so viele Menschen, die sich ihrem Herkunftsland selbstverständlich verbunden fühlen, die Strategien des dortigen Machthabers weiterhin unterstützen, – genau das (!) – “beeindruckt” mich enorm!

  • "Erdoğan kommt auch im Gewand des Antikolonialen daher. Er erweckt den Eindruck, die Türkei von den Fesseln des Westens zu befreien und endlich auf Augenhöhe zum Westen zu sprechen."

    Mag ja sein, aber die Art und Weise, wie er in der Türkei politische Gegner aus dem Weg räumt, ist beängstigend. Menschenrechtsverletzungen, Folter, Willkür und Repressionen gegen Andersdenkende. Dafür gibt es keinerlei Rechtfertigungen und daher ist das Wählen eines solchen Autokraten zu kritisieren. Da kann ich mich dem Kommentar von Özdemir nur anschließen.

    Und was Olaf Scholz anbelangt, die Bundespolitik interessiert sich für die wirtschaftlichen Beziehungen. Also rollt man den roten Teppich aus.