Soziologe über Argentiniens Machtwechsel: „Die enorme Verdrehung der Dinge“
Javier Milei tritt die Präsidentschaft in Argentinien an – am Jahrestag der Rückkehr zur Demokratie. Das alarmiert, sagt Soziologe Juan Carlos Torre.
taz: Herr Torre, am Sonntag begeht Argentinien den 40. Jahrestag der Rückkehr zur Demokratie. Gleichzeitig tritt der neue ultrarechte Präsident Javier Milei sein Amt an. Sind beide Ereignisse Anlässe zum Feiern?
Juan Carlos Torre: Nicht alle haben 1983 von einer Rückkehr zur Demokratie gesprochen. Ein bekannter Politikwissenschaftler stellte die Frage, zu welcher Demokratie wir eigentlich zurückkehren würden? In der Zeit vor der Militärdiktatur war die Demokratie ziemlich armselig. Es gab zwar Wahlen, an denen aber beispielsweise die peronistische Partei nicht teilnehmen durfte. Deshalb wurde die Definition ‚Übergang vom Autoritarismus hin zur Demokratie‘ geprägt, und nicht von einer Rückkehr zur Demokratie gesprochen. Auch ich benutze diese Definition.
Der argentinische Soziologe und Historiker (83) war bis 1988 Mitglied des Wirtschaftsteams von Raúl Alfonsín, dem ersten gewählten Präsidenten nach der Diktatur (1976-1983). Torre ist Dozent an der Universität Torcuato Di Tella in Buenos Aires.
Argentinien blickt auf eine lange Geschichte zurück, in der sich zivile Regierungen und Militärregime abwechselten. Sind es also 40 Jahre Demokratie oder 40 Jahre ohne Staatsstreich?
Es geht Hand in Hand. Ob man es wollte oder nicht, man wusste, dass in einer schwierigen oder chaotischen Situation das Militär eingreifen würde. Doch der Staatsterrorismus der letzten Militärdiktatur und der Krieg um die Malwinen haben das Militär aus den Rennen genommen. Seitdem gab es Situationen, die alle Elemente für einen Militärputsch aufwiesen, aber da ein Militärputsch als Mittel nicht zur Verfügung stand, musste die Politik eine Lösung finden.
Welche Situationen würden sie als putschwürdig bezeichnen?
Die tiefen Krisen von 2001 und aktuell 2023 waren potenziell günstige Situationen für einen Militärputsch. Das wirklich Neue daran ist, dass sie ohne einen Militärputsch vorübergingen. Wenn ich mir also die letzten 40 Jahre anschaue, dann stelle ich zwei Dinge fest. Die Militärs sind in den Kasernen und es gibt freie Wahlen, deren Ergebnisse anerkannt werden. Das sind zwei feste Säulen unserer heutigen Demokratie.
Wie fügt sich Argentiniens Übergang zur Demokratie in den regionalen Kontext ein?
Wenn man einen vergleichenden Blick auf Lateinamerika wirft, kann man verschiedene Wellen erkennen. In den 1970er Jahren gab es nur zwei Länder in Lateinamerika, in denen keine Diktatur herrschte. In den 1980er Jahren kann man eine Welle hin zu demokratischen Institutionen erkennen. Die Länder schauten aufeinander, schöpften aus den demokratischen Entwicklungen beim Nachbarn Hoffnung und Kraft. In einem Land ging es schneller, in Chile zum Beispiel dauerte es länger. Noch bis vor kurzem hatten wir eine weitere Welle, die sich nach links wandte, mit Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien, Lula da Silva in Brasilien oder dem Ehepaar Kirchner in Argentinien. Heute gibt es wieder eine Bewegung, aber mit einer entgegengesetzten Tendenz.
Dies gilt für den marktradikalen Javier Milei, der am Sonntag als neuer Präsident vereidigt wird. Ist Milei eine Gefahr für die Demokratie?
Es herrscht eine Art Alarmzustand, und das zu Recht. Schließlich hat Milei ziemlich verrückte Dinge gesagt. Derzeit ist eine Mutation bei ihm zu beobachten. Er mäßigt seine Äußerungen und scheint sich von einem politischen Agitator zu einer Person zu wandeln, die sich bewusst ist, dass sie bald in Regierungsverantwortung steht.
Wer Mileis cholerischen Charakter kennt, wird schnell ins Zweifeln kommen.
Ich bin auch skeptisch, ob ihm der Übergang zu einer moderateren Person gelingen wird. Milei ist ein sehr gläubiger Mensch. Er glaubt fest daran, dass der Markt die Lösung für alles ist und, dass er weiß, wo es lang geht. Wer so fest glaubt und zudem in einer Freund-Feind-Welt lebt, verliert schnell das Moderate, wenn er auf Hindernisse stößt. Ich befürchte, dass er diejenigen, die sich seinen Ideen widersetzen, als Landesverräter beschuldigen wird.
Aber er wurde mit Stimmen aus allen politischen Lagern gewählt. Wie konnte das geschehen?
Das ist die große Neuigkeit. Die unteren Schichten waren immer peronistisch, egal welche Politik der Peronismus verfolgt hat. Peronist ist man nicht, man fühlt sich als solcher. Aber der Peronismus hat nicht mehr diese starke Anziehungskraft. Zum ersten Mal fühlen sich viele Menschen nicht mehr peronistisch und haben diese große Glaubensgemeinschaft verlassen. Denn da kommt ein Priester wie Milei und sagt in aller Ruhe, ‚soziale Gerechtigkeit ist ein Betrug‘. Und er sagt, man solle den Artikel 14ff der Verfassung abschaffen, in dem das Recht auf Arbeit, Recht auf Altersversorgung, Mitbestimmungsrecht und das Recht auf Sicherheit am Arbeitsplatz geregelt ist. Selbst in liberalen und konservativen Staaten gibt es ein Plätzchen für solche Garantien.
Und das hat es ihm ermöglicht, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen?
Es ist die enorme Verdrehung der Dinge. Im Namen der sozialen Gerechtigkeit wurde eine Politik betrieben, die mit immer mehr Inflation bezahlt werden muss. Die Bilanz der kirchneristischen Regierung ist so schlecht, dass sie einen Milei an die Spitze gebracht hat. Ein konservativer Kolumnist schrieb, ‚Milei wurde aus einer Rippe von Cristina Kirchner erschaffen‘. Tatsache ist, Milei ist kein außerirdisches Phänomen.
Tatsache ist auch, dass nach vierzig Jahren Demokratie über 40 Prozent der Bevölkerung verarmt sind.
Ich unterscheide zwischen den Armen und Armut. Armut ist ein dauerhafter Zustand, der sich über Generationen hinweg reproduziert. Im Jahr 1983 waren 20 Prozent der Bevölkerung arm. Damals haben wir erstmals erkannt, dass es Armut gibt. Das war neu und ein Skandal. Wir hätten nicht gedacht, dass wir wie Mexiko oder Brasilien sein würden. Dazu kam die Aufteilung der Arbeitswelt in einen Sektor der formellen Arbeitenden, vertreten durch die Gewerkschaften, geschützt durch die Sozialversicherung und einen anderen Sektor mit der sogenannten informellen Arbeit, der sich auf Arbeits- oder Lebensbedingungen beschränkte, die wir nicht kannten.
Welche Folgen hatte die Teilung?
Das Besondere an der Lateinamerikanisierung Argentiniens ist, dass es sich um ‚mobilisierte Arme‘ handelt. Argentinien hat einen phänomenalen Organisationsgrad. In ganz Lateinamerika gibt es nur in Argentinien eine Piquetero-Bewegung mit einer Führungsstruktur. Sie kommt aus der Welt der Gewerkschaften. Wir haben heute Gewerkschaften für organisierte Beschäftigte und, wie ich es nenne, virtuelle Gewerkschaften für nicht-registrierte Beschäftigte. Während die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern über die Lohnpolitik diskutieren, setzen sich die Nicht-Registrierten mit der Regierung zusammen und diskutieren über die Sozialpolitik. Die scheidende Regierung hatte für sie ein eigenes Ministerium eingerichtet. Das Sozialministerium ist voll von Chefs der sozialen Bewegungen.
Und eines von den acht Ministerien, die Milei abschaffen will.
Dies ist eine der größten Herausforderungen für Milei. Er ist sehr sensibel für die Welt der Armen und die kommende Regierung hat sie auf ihrer Agenda. Milei hat schon mehrfach gesagt, dass kein Geld da ist, außer für das Ministerium für Humankapital, das er einrichten will und das sich um die Bedürftigsten kümmern soll. Ihnen soll weiterhin geholfen werden.
Argentinien wurde weltweit für seine juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen der letzten Militärdiktatur gelobt. Die künftige Vizepräsidentin Victoria Villarruel wird von vielen als Verteidigerin eben dieser Militärdiktatur gesehen. Wird es ein Roll-Back geben?
Villarruel sagt, dass es damals ein Krieg war. Das ist die Position einer kleinen Minderheit. Dass sie heute eine Diskussion darüber auslösen kann, liegt an der Politisierung der Menschenrechte durch die Kirchner-Regierungen. Néstor Kirchner hatte es geschafft, den größten Teil der Menschenrechtsbewegung einzubinden. Mein Eindruck ist, dass Milei nicht sehr glücklich über seine Vizepräsidentin ist. Er will die Inflation bekämpfen und den Kapitalismus stärken. Eine Diktaturdebatte würde einen riesigen Konflikt lostreten, der in seinen Augen völlig unnötig wäre.
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