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Soziologe Hartmut Rosa über Corona„Wir sind in einem Versuchslabor“

Die Corona-Pandemie zwingt uns, alles neu zu denken, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Unsere Gesellschaft könne sich neu erfinden – und hätte es nötig.

Einfach mal anhalten und die schönen Kirschbäume anschauen Foto: Kay Nietfeld/dpa
Jan Feddersen
Edith Kresta
Interview von Jan Feddersen und Edith Kresta

taz: Herr Rosa, wo erreichen wir Sie mit unserem Anruf?

Hartmut Rosa: Im Schwarzwald.

Haben Sie die Empfehlungen der Kanzlerin befolgt und sind nicht nach Jena gefahren?

Es ist dort wirklich alles abgesagt und das meiste geschlossen worden. Das ist eine historisch einzigartige Situation, dass sich der Kalender leert statt füllt. Meistens ist es ja so, dass die Lücken noch mit irgendwelchen Terminen zugestopft werden. Im Moment ist es andersrum: Ich streiche diesen Termin, jenen Termin, diesen Flug …

Müssen Sie jetzt umdenken?

Ja, und zwar weil es etwas Neues ist. Aber ich vermute, ich bin nicht der Einzige, der plötzlich einen anderen Alltag hat.

Sie sind derjenige, der mehr über Entschleunigung geredet hat als viele andere. In Ihrem Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ haben Sie den Verlust an Resonanzerfahrung im Zusammenhang mit einer sich stetig beschleunigenden Welt beschrieben.

Ja, und nun haben wir definitiv eine Form der Zwangsentschleunigung, dabei leben wir weiterhin in einer Gesellschaft, die sich eigentlich nur durch Steigerung in ihrer Struktur erhalten kann. Wenn man so etwas anhält, zahlt man in der Regel einen hohen Preis. Den müssen wir sicher noch bezahlen. Wir leben in einer Realität, die auf Steigerung, Dynamik, Wachstum geeicht ist – und die ist nun hinfällig.

Weil uns ein Virus dazwischengekommen ist.

Der zerfrisst zwar nicht die Flugzeuge oder macht die Schienen kaputt. Vielmehr sind wir es selbst, die in Erahnung, Vermutung, teilweise auch Beobachtung einer Gefahr diese gewaltige Maschine anhalten. So ein radikales Anhalten hatten wir noch nie. Was dabei herauskommt, steht völlig in den Sternen.

Wenn man sich solche Krisenszenarien vor Monaten ausgemalt hätte, wäre man vermutlich auf die Idee gekommen, dass alle hysterisch und aufgeregt sind. Dabei geht doch alles sehr vernünftig ab.

Panik ist nicht wirklich zu sehen, da stimme ich zu. Ich mache mir aber ein bisschen Sorgen, dass sich möglicherweise etwas Ähnliches wiederholen kann wie bei der Flüchtlingskrise 2015. Damals, Sie erinnern sich, waren die ersten Reaktionen ja wirklich überwältigend, menschlich und der Situation angemessen.

Man konnte richtig begeistert sein!

Bild: dpa
Im Interview: Hartmut Rosa

Jahrgang 1965, ist ein Soziologe und Politikwissenschaftler. Er ist seit 2005 Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und seit 2013 zugleich Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt.

In der Tat, Solidarität, Nächstenliebe und Willkommenskultur an jedem Bahnhof und man dachte: Das ist doch mal ein Zeichen, ein Aufbruch der Gesellschaft. Es hat aber nicht lange gedauert. Und heute haben wir den totalen Verlust der Solidarität und sogar des Mitgefühls mit den Leuten, die an der griechisch-türkischen Grenze stehen. Daher bin ich mir nicht sicher, wie nachhaltig das ist, was wir da gerade an Disziplin, Solidarität und Vernunft sehen. Wir haben eine Ausnahmesituation, die sich ambivalent anfühlt.

Welche Zwiespältigkeiten empfinden Sie?

Auf der einen Seite haben wir diesen notorischen, lange eingeübten Aktivitätsdrang: Die Welt wird zum Aggressionspunkt, man muss ganz viele Dinge tun. So eine Haltung verschwindet ja nicht von heute auf morgen. Sie verlagert sich aber derzeit fast ganz in die digitale Welt. Da rasen die Ströme immer noch, man denkt, man muss mal diesen Bekannten hier anschreiben, sich dort erkundigen, den Guardian checken, die New York Times, die sozialen Medien.

Dem steht eine massive Verlangsamung im realen physischen Leben gegenüber. Wo man sich einerseits stillgestellt und ausgeschlossen fühlt, andererseits plötzlich neue Formen von Solidarität und neue Formen von Zugewandtheit entdeckt.

Das überrascht Sie wirklich?

Nein. Darauf will ich ja schon länger hinaus, mit dem, was ich schreibe. Dass das Hamsterrad sich dreht und dies immer schneller tut, das zwingt uns in einen Aggressionsmodus gegenüber der Welt. Dadurch verschließt man sich gegenüber Wahrnehmungen aller Art. Akustische Signale, optische, solche von Nachbarn: Wer und was auch immer mir begegnet, ich blende sie aus, weil ich es ja eilig habe und ein Ziel verfolge, effizient sein muss.

Und jetzt plötzlich gibt es fast nichts mehr zu tun. Meine Welt ist räumlich und zeitlich sehr eingeschränkt auf den unmittelbaren Nahbereich: Ich kann nicht weit weg gehen und nicht weit in die Zukunft planen. Ich nenne das eine radikale Weltreichweitenverkürzung. Und dann öffnet man sich wieder in einen Modus, den ich als Resonanzmodus beschreibe, nämlich: hören, wahrnehmen und antworten, ohne auf etwas Bestimmtes hinauszuwollen, ohne optimieren zu müssen.

Dieses Resonanzmoment ist aktuell der gemeinsame, oder?

Im Grunde bin ich überzeugt davon, dass nur in Resonanzbeziehungen und -momenten Neues entstehen kann. Und deshalb würde ich durchaus sagen, wir sind in einem kollektiven Resonanzmoment. In einer Situation, in der wir alle hinhören, uns füreinander und die Welt öffnen und eine Antwort finden können. Und da kann, im Sinne von Hannah Arendt, vielleicht etwas kollektiv Neues entstehen. Die Gesellschaft kann sich neu erfinden. Und ja, sie hätte es bitter nötig.

Die Krise als Chance, wie es bei manchen schon heißt?

Wenn man nach optimistischen Deutungen der Lage sucht, würde ich sagen, genau darin liegt die Chance: Dass man neue Formen der Erfahrung des In-der-Welt-Seins und Miteinander-Umgehens erlebt, von denen wir vielleicht auch profitieren oder zehren können, wenn die ökonomischen Konsequenzen, die unerfüllbaren Steigerungszwänge zuschlagen.

Der radikale, auch ökomische Stopp in unserer auf Steigerungslogik aufgebauten Gesellschaft, macht Ihnen das Angst?

Die Sorge ist natürlich, dass die Arbeitsplätze verloren gehen, die öffentlichen Haushalte ins Ungleichgewicht geraten, das Gesundheitssystem nicht aufrechterhalten werden kann. Die Frage ist, wie diese Art von Gesellschaft, die wir ja etabliert haben, mittelfristig oder langfristig leben kann mit einem derart reduzierten Tempo. Da muss man sich institutionelle Veränderungen einfallen lassen, aber vielleicht ist diese jetzt viral ausgelöste Krise genau der Punkt, an dem wir einen Übergang schaffen.

Ich meine, seit dem Club-of-Rome-Bericht Anfang der siebziger Jahre träumt man davon irgendwie, die Zahl der Emissionen zu reduzieren oder diesem Wachstumswahnsinn irgendwelche Riegel vorzuschieben. Und wir waren dazu vollständig unfähig, kluge Bücher, Konferenzen, taz-Konferenzen und anderes, haben sich dieses Wachstumszwangs oder der Steigerungslogik angenommen, die Klimakrise bedroht uns immer stärker – und es hat sich überhaupt nichts verändert. Aber das Virus schafft es im Handumdrehen, diese riesige Maschine anzuhalten. Das ist absolut faszinierend.

Eine Krise ohne Feind?

Das Virus ist der Feind, nicht nur der französische Präsident Emmanuel Macron hat ihm den Krieg erklärt. Dieser Feind repräsentiert das gesellschaftlich Unverfügbare: Wir haben das wissenschaftlich nicht im Griff, wir können es medizinisch nicht bearbeiten, es gibt keine Impfung, wir können die Ausbreitung politisch nicht stoppen, es gibt keine Regulierung, die ökonomische Konsequenz wird immer finsterer.

Das finde ich wirklich interessant, das beschäftigt mich theoretisch im Moment am meisten. Weil ich die Krise ein bisschen so lese wie das letzte Kapitel meines Buches über Unverfügbarkeit, das den Titel trägt: „Die Rückkehr der Unverfügbarkeit als Monster“.

Ein anonymisierter Prozess, oder?

Hinter unserem Rücken kriecht Unverfügbarkeit in alle alltagspraktischen Ebenen des Lebens hinein. Weil wir den Virus nicht hören, nicht riechen, nicht schmecken. Plötzlich wissen wir nicht, ob die Klinke oder der Geldschein, den wir berühren, einen potenziell tödlichen Keim mit sich trägt. Es ist schon ein Feind im Spiel, aber zum Glück hat dieser Feind momentan keine nationale oder politische oder personelle Komponente.

Wie lange kann die Gesellschaft so etwas durchhalten?

Im Moment ist es ja so, dass die meisten Leute, gerade die Jüngeren, sagen: Eigentlich bin ich nicht gefährdet, aber ich verhalte mich solidarisch mit den Älteren und den Schwachen …

… jedenfalls die allermeisten.

Die Frage ist, wie sich das langfristig auswirkt. Da bin ich nicht so überzeugt, dass die Corona-Erfahrung ausreicht, um uns plötzlich in durch und durch zivilisierte Menschen zu verwandeln. Wir sollten nicht blauäugig sein.

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10 Kommentare

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  • Es kommt selten vor, dass ich etwas lese, was eigene Gedanken und die meiner Freunde so gut ausdrückt und ihnen interessante Referenzpunkte verleiht. Allerdings komme ich angesichts des unheimlichen Leidens, dass dieses Virus in auf sehr engem Raum zusammengepferchten "Kohorten" auslösen wird (Indien, Brasilien, hoffentlich nicht Regionen in Afrika) nicht umhin, mir die Schattenseiten bewusst zu machen. Die Herausforderungen sind gigantisch, fangen wir im Kleinen an...

  • DAS Virus.

  • "Wie lange kann die Gesellschaft so etwas durchhalten?" - vermutlich nur so lange, wie jede/r zunächst mit der Neuordnung der eigenen Umstände befasst ist. Wenn das erledigt wurde, blickt er/ sie sich um und sieht, dass andere vielleicht einen Ticken besser klarkommen/ noch arbeiten können/ eine abwechselnde Kinderbetreuung verfügbar haben usw. und ab dem Moment wird es blubbern. Je länger die Zeit der "Unverfügbarkeit" andauert, um so stärker wird es blubbern, dann brodeln. Geht ja jetzt schon los, dass manch einer nicht damit klarkommt, warum hier die Ausgangsregeln so sind, anderswo aber ein klein wenig anders. Sobald diese Gruppe lautstark wird, ist es vorbei mit der Solidarität und gegenseitigen Unterstützung.

  • Verlangsamung und ein Plus an Zeit empfindet man vielleicht als älterer Herr mit festem Job im wissenachaftlichen Elfenbeinturm. Wer irgendwie Kinderbetreuung und Home Office unter einen Hut bringen muss und von einer positiven Entwicklung der Wirtschaft abhängt, für den ist diese Zeit ziemlich stressig und keineswegs "entschleunigt".

  • Wenn man gesellschaftliche Zusammenhänge vernebeln möchte, frage man einfach einen Soziologen.

    "Dieser Feind repräsentiert das gesellschaftlich Unverfügbare: Wir haben das wissenschaftlich nicht im Griff, wir können es medizinisch nicht bearbeiten ..."

    Mike Davis hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass Virologie und Pandemien-Vorbeugung keine "gesellschaftlich unverfügbaren" Zauberdinge sind. Auch die Viren unterliegen Produktionsbedingungen und diese haben sich mit der Massentierhaltung usw. in den letzten Jahrzehnten enorm verbessert. Schließlich können die Viren auch deshalb so ungebremst zirkulieren, weil ihre Erforschung wenig profitabel ist, die globalen Gesundheitssysteme vom Neoliberalismus geschliffen wurden und es kaum globale Koordinierung gibt.

    • @Bajramaj:

      Soso, der Neoliberalismus muss mal wieder dran glauben. Sie haben offenbar nicht mitbekommen, dass es selbst gegen "profitable" Krankheitserreger, wie den Malaria-Erreger, keinen Impfstoff gibt, obwohl seit über 40 Jahren (Aussage Prof. Drosten) daran geforscht wird und ein Impfstoff zum absoluten Kassenschlager avancieren dürfte. Auch das ist ein Teil der von Hartmut Rosa beschriebenen "Unverfügbarkeit" - wir können es (noch) nicht.



      Überprüfen Sie Ihre steile These doch nochmal an der sich zuletzt wieder stark zunehmenden Ausbreitung von Masern, obwohl für die kostenlosen Impfungen Impfstoffe in ausreichender Menge verfügbar sind. Beziehen Sie dabei auch die Faktoren Impfgegner, Gleichgültigkeit und Egoismus mit ein.



      Man kann den Neoliberalismus und die von ihm angefeuerte Profitsucht usw. gerne prügeln - Gründe gibts dafür genug. Aber man sollte sich davor hüten, alle Problemlagen dieser Welt darauf abzuwälzen und damit den eigenen Blick auf Lösungsansätze einzuengen.

      • @Edward:

        Es wird sicherlich nicht mit dem nötigen Ressourceneinsatz daran geforscht. Davis schreibt, dass von den 18 größten Pharma-Konzernen in den USA 15 keinerlei antivirale und keinerlei antibakterielle Forschung betreiben. www.blackagendarep...id-19-monster-door

        Staatliche Pharma-Forschung gibt es ohnehin kaum. Globale erst recht nicht. Forscht jemand auf dieser Welt ernsthaft an einer universalen Influenza-Impfung? Man muss doch auf diese Missstände hinweisen und hier ansetzen, aber doch nicht gesellschaftliche Zustände zu einer quasi-natürlichen "Unverfügbarkeit" ontologisieren.

        Profitsucht hängt übrigens auch nicht am Neoliberalismus, sondern am Kapitalismus, ganz egal, in welcher Gestalt er sich verkleidet.

        Neoliberal geschliffen wurden allerdings Sozialstaat und Gesundheitssysteme. Trump hat gerade erst das Epidemien office des Weißen Hauses schließen lassen. Die Krankenhäuser, Krankenhausbetten, Notfallbetten usw. dürften in den letzten 30 Jahren fast überall in der westlichen Welt zusammengestrichen worden sein. Oh Mensch, was ist dir nicht alles unverfügbar! Wir haben's schon nicht leicht mit unserer conditio humana.

        Katastrophenprävention wäre in jeder Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit. Unsere kann darin nur tote Kosten erkennen.

  • Das Mitgefühl für die Geflüchteten in und vor Griechenland ist enorm, auch die Hilfe für diejenigen, die sich gerade hier integrieren läuft weiterhin.

    Sie sind nur nicht so laut, wie die Stimmen der xenophoben und rassistischen Darmausgänge!

  • "Da bin ich nicht so überzeugt, dass die Corona-Erfahrung ausreicht, um uns plötzlich in durch und durch zivilisierte Menschen zu verwandeln. Wir sollten nicht blauäugig sein." Weiss Gott, denn die alte Gewohnheit und vor allem die alte Gier werden wahrscheinlich diese Krise so schnell Geschichte werden lassen, wie sie gekommen ist - leider!!

    • @joaquim:

      Einen "Vorteil" hat dieses Virus aber: Es ist ein gemeinsamer Feind, der völlig ohne jeden Unterschied alle betrifft. Das vereint schon irgendwie.