Soziologe Hartmut Rosa über Corona: „Wir sind in einem Versuchslabor“
Die Corona-Pandemie zwingt uns, alles neu zu denken, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Unsere Gesellschaft könne sich neu erfinden – und hätte es nötig.
taz: Herr Rosa, wo erreichen wir Sie mit unserem Anruf?
Hartmut Rosa: Im Schwarzwald.
Haben Sie die Empfehlungen der Kanzlerin befolgt und sind nicht nach Jena gefahren?
Es ist dort wirklich alles abgesagt und das meiste geschlossen worden. Das ist eine historisch einzigartige Situation, dass sich der Kalender leert statt füllt. Meistens ist es ja so, dass die Lücken noch mit irgendwelchen Terminen zugestopft werden. Im Moment ist es andersrum: Ich streiche diesen Termin, jenen Termin, diesen Flug …
Müssen Sie jetzt umdenken?
Ja, und zwar weil es etwas Neues ist. Aber ich vermute, ich bin nicht der Einzige, der plötzlich einen anderen Alltag hat.
Sie sind derjenige, der mehr über Entschleunigung geredet hat als viele andere. In Ihrem Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ haben Sie den Verlust an Resonanzerfahrung im Zusammenhang mit einer sich stetig beschleunigenden Welt beschrieben.
Ja, und nun haben wir definitiv eine Form der Zwangsentschleunigung, dabei leben wir weiterhin in einer Gesellschaft, die sich eigentlich nur durch Steigerung in ihrer Struktur erhalten kann. Wenn man so etwas anhält, zahlt man in der Regel einen hohen Preis. Den müssen wir sicher noch bezahlen. Wir leben in einer Realität, die auf Steigerung, Dynamik, Wachstum geeicht ist – und die ist nun hinfällig.
Weil uns ein Virus dazwischengekommen ist.
Der zerfrisst zwar nicht die Flugzeuge oder macht die Schienen kaputt. Vielmehr sind wir es selbst, die in Erahnung, Vermutung, teilweise auch Beobachtung einer Gefahr diese gewaltige Maschine anhalten. So ein radikales Anhalten hatten wir noch nie. Was dabei herauskommt, steht völlig in den Sternen.
Wenn man sich solche Krisenszenarien vor Monaten ausgemalt hätte, wäre man vermutlich auf die Idee gekommen, dass alle hysterisch und aufgeregt sind. Dabei geht doch alles sehr vernünftig ab.
Panik ist nicht wirklich zu sehen, da stimme ich zu. Ich mache mir aber ein bisschen Sorgen, dass sich möglicherweise etwas Ähnliches wiederholen kann wie bei der Flüchtlingskrise 2015. Damals, Sie erinnern sich, waren die ersten Reaktionen ja wirklich überwältigend, menschlich und der Situation angemessen.
Man konnte richtig begeistert sein!
Jahrgang 1965, ist ein Soziologe und Politikwissenschaftler. Er ist seit 2005 Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und seit 2013 zugleich Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt.
In der Tat, Solidarität, Nächstenliebe und Willkommenskultur an jedem Bahnhof und man dachte: Das ist doch mal ein Zeichen, ein Aufbruch der Gesellschaft. Es hat aber nicht lange gedauert. Und heute haben wir den totalen Verlust der Solidarität und sogar des Mitgefühls mit den Leuten, die an der griechisch-türkischen Grenze stehen. Daher bin ich mir nicht sicher, wie nachhaltig das ist, was wir da gerade an Disziplin, Solidarität und Vernunft sehen. Wir haben eine Ausnahmesituation, die sich ambivalent anfühlt.
Welche Zwiespältigkeiten empfinden Sie?
Auf der einen Seite haben wir diesen notorischen, lange eingeübten Aktivitätsdrang: Die Welt wird zum Aggressionspunkt, man muss ganz viele Dinge tun. So eine Haltung verschwindet ja nicht von heute auf morgen. Sie verlagert sich aber derzeit fast ganz in die digitale Welt. Da rasen die Ströme immer noch, man denkt, man muss mal diesen Bekannten hier anschreiben, sich dort erkundigen, den Guardian checken, die New York Times, die sozialen Medien.
Dem steht eine massive Verlangsamung im realen physischen Leben gegenüber. Wo man sich einerseits stillgestellt und ausgeschlossen fühlt, andererseits plötzlich neue Formen von Solidarität und neue Formen von Zugewandtheit entdeckt.
Das überrascht Sie wirklich?
Nein. Darauf will ich ja schon länger hinaus, mit dem, was ich schreibe. Dass das Hamsterrad sich dreht und dies immer schneller tut, das zwingt uns in einen Aggressionsmodus gegenüber der Welt. Dadurch verschließt man sich gegenüber Wahrnehmungen aller Art. Akustische Signale, optische, solche von Nachbarn: Wer und was auch immer mir begegnet, ich blende sie aus, weil ich es ja eilig habe und ein Ziel verfolge, effizient sein muss.
Und jetzt plötzlich gibt es fast nichts mehr zu tun. Meine Welt ist räumlich und zeitlich sehr eingeschränkt auf den unmittelbaren Nahbereich: Ich kann nicht weit weg gehen und nicht weit in die Zukunft planen. Ich nenne das eine radikale Weltreichweitenverkürzung. Und dann öffnet man sich wieder in einen Modus, den ich als Resonanzmodus beschreibe, nämlich: hören, wahrnehmen und antworten, ohne auf etwas Bestimmtes hinauszuwollen, ohne optimieren zu müssen.
Dieses Resonanzmoment ist aktuell der gemeinsame, oder?
Im Grunde bin ich überzeugt davon, dass nur in Resonanzbeziehungen und -momenten Neues entstehen kann. Und deshalb würde ich durchaus sagen, wir sind in einem kollektiven Resonanzmoment. In einer Situation, in der wir alle hinhören, uns füreinander und die Welt öffnen und eine Antwort finden können. Und da kann, im Sinne von Hannah Arendt, vielleicht etwas kollektiv Neues entstehen. Die Gesellschaft kann sich neu erfinden. Und ja, sie hätte es bitter nötig.
Die Krise als Chance, wie es bei manchen schon heißt?
Wenn man nach optimistischen Deutungen der Lage sucht, würde ich sagen, genau darin liegt die Chance: Dass man neue Formen der Erfahrung des In-der-Welt-Seins und Miteinander-Umgehens erlebt, von denen wir vielleicht auch profitieren oder zehren können, wenn die ökonomischen Konsequenzen, die unerfüllbaren Steigerungszwänge zuschlagen.
Der radikale, auch ökomische Stopp in unserer auf Steigerungslogik aufgebauten Gesellschaft, macht Ihnen das Angst?
Die Sorge ist natürlich, dass die Arbeitsplätze verloren gehen, die öffentlichen Haushalte ins Ungleichgewicht geraten, das Gesundheitssystem nicht aufrechterhalten werden kann. Die Frage ist, wie diese Art von Gesellschaft, die wir ja etabliert haben, mittelfristig oder langfristig leben kann mit einem derart reduzierten Tempo. Da muss man sich institutionelle Veränderungen einfallen lassen, aber vielleicht ist diese jetzt viral ausgelöste Krise genau der Punkt, an dem wir einen Übergang schaffen.
Ich meine, seit dem Club-of-Rome-Bericht Anfang der siebziger Jahre träumt man davon irgendwie, die Zahl der Emissionen zu reduzieren oder diesem Wachstumswahnsinn irgendwelche Riegel vorzuschieben. Und wir waren dazu vollständig unfähig, kluge Bücher, Konferenzen, taz-Konferenzen und anderes, haben sich dieses Wachstumszwangs oder der Steigerungslogik angenommen, die Klimakrise bedroht uns immer stärker – und es hat sich überhaupt nichts verändert. Aber das Virus schafft es im Handumdrehen, diese riesige Maschine anzuhalten. Das ist absolut faszinierend.
Eine Krise ohne Feind?
Das Virus ist der Feind, nicht nur der französische Präsident Emmanuel Macron hat ihm den Krieg erklärt. Dieser Feind repräsentiert das gesellschaftlich Unverfügbare: Wir haben das wissenschaftlich nicht im Griff, wir können es medizinisch nicht bearbeiten, es gibt keine Impfung, wir können die Ausbreitung politisch nicht stoppen, es gibt keine Regulierung, die ökonomische Konsequenz wird immer finsterer.
Das finde ich wirklich interessant, das beschäftigt mich theoretisch im Moment am meisten. Weil ich die Krise ein bisschen so lese wie das letzte Kapitel meines Buches über Unverfügbarkeit, das den Titel trägt: „Die Rückkehr der Unverfügbarkeit als Monster“.
Ein anonymisierter Prozess, oder?
Hinter unserem Rücken kriecht Unverfügbarkeit in alle alltagspraktischen Ebenen des Lebens hinein. Weil wir den Virus nicht hören, nicht riechen, nicht schmecken. Plötzlich wissen wir nicht, ob die Klinke oder der Geldschein, den wir berühren, einen potenziell tödlichen Keim mit sich trägt. Es ist schon ein Feind im Spiel, aber zum Glück hat dieser Feind momentan keine nationale oder politische oder personelle Komponente.
Wie lange kann die Gesellschaft so etwas durchhalten?
Im Moment ist es ja so, dass die meisten Leute, gerade die Jüngeren, sagen: Eigentlich bin ich nicht gefährdet, aber ich verhalte mich solidarisch mit den Älteren und den Schwachen …
… jedenfalls die allermeisten.
Die Frage ist, wie sich das langfristig auswirkt. Da bin ich nicht so überzeugt, dass die Corona-Erfahrung ausreicht, um uns plötzlich in durch und durch zivilisierte Menschen zu verwandeln. Wir sollten nicht blauäugig sein.
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