Soziokultur in Berlins Zentrum: Das ist unser Haus
Mit dem Haus der Statistik könnte in Berlin-Mitte einer der Kulturstandorte erhalten bleiben, die den Bezirk einst ausmachten und größtenteils verdrängt sind. Die Kreativen dort brauchen dringend Planungssicherheit.
D er Wind pfeift eisig durch die Löcher in den riesigen Plattenbauten am nordöstlichen Rand des Alexanderplatzes. Schon vor Jahren wurden hier die Fenster herausgerissen. Der Verkehr auf der Otto-Braun-Straße dröhnt so laut, dass man sich kaum unterhalten kann. Doch dann betreten Frauke Gerstenberg und Harry Sachs das Erdgeschoss des Hauses der Statistik – eigentlich kein Haus, sondern ein großer Gebäudekomplex –, und es wird so ruhig wie konzentriert.
Noch hängen die Bilder einer Fotoausstellung im Foyer, die sich den verfallenden Bauten des ehemaligen Ostblocks widmet. Ab sofort wird hier der Verein Syrienhilfe für die Flüchtlingslager im Norden des kriegsgeschüttelten Landes wieder Sachspenden wie Schulbedarf, Spielsachen, Hygieneartikel und medizinische Hilfsmittel einsammeln, bereits zum zweiten Mal an diesem Ort.
Frauke Gerstenberg und Harry Sachs warten auf die Initiatorin Hiba Al-Bassir. So lange sprechen sie schon einmal selbst über ihr Projekt, das Haus der Statistik.
Denn es ist wichtig, das jetzt zu tun. Seit zwei Jahren werden die Erdgeschosse der alten DDR-Bauten mit Angeboten von Recycling bis Obdachlosenhilfe, von Jugendarbeit bis Kunst und Kino gefüllt – Themen, die rund um den Alexanderplatz immer weniger Platz finden. Die Macher*innen tun dies mit bis Ende Juni befristeten Nutzungsüberlassungen und für rund 3 Euro Miete pro Quadratmeter, was den Betriebskosten für ihre Räume und die Gemeinschaftsflächen entspricht. Dafür nutzbar machen mussten sie das Gebäude zuvor selbst: Am Anfang gab es hier nichts als Scherben und Schutt.
Doch ab diesem Sommer wird der Gebäudekomplex zu einem gemischten Quartier umgebaut, in dem vor allem bezahlbare Wohnungen geplant sind und Büros für Behörden. Dank des Engagements von Leuten wie Sachs und Gerstenberg hat der Senat den aktuellen Nutzer*innen Räume in Aussicht gestellt, aber noch nicht garantiert. Nach den Wahlen im Herbst wird es eine neue Landesregierung geben. Es gilt also jetzt, die Nutzer*innen, zu denen auch Frauke Gerstenberg und Harry Sachs selbst gehören, abzusichern. „Wir wollen noch vor der Wahl einen langfristigen Vertrag mit Option auf späteres Erbbaurecht abschließen“, sagen beide.
Frauke Gerstenberg vom Architekturkollektiv raumlaborberlin, das etwa hinter der „Floating University“ steckt, einem Campus, wo Studierende seit 2018 urbane Gestaltung praktisch erlernen können, und Harry Sachs vom Zentrum für Kunst und Urbanistik, dem ehemaligen Güterbahnhof am Westhafen, der von Sachs und seinen Mitstreiter*innen zu einem Künstlerbahnhof umgebaut wurde: Sie gehören zu jenen Menschen, die vor etwas mehr als fünf Jahren begonnen haben, das Haus der Statistik neu zu erfinden.
Um das zu verstehen, muss man ein bisschen ausholen. Es beginnt im Jahr 2015, als Künstler*innen aus der Allianz bedrohter Atelierhäuser über Nacht ein großes Plakat an der Fassade des Gebäudekomplexes anbringen: „Hier entstehen für Berlin: Räume für Kunst, Kultur und Soziales“. Zu DDR-Zeiten Sitz der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, wird der Komplex nach der Wende Dienstsitz der Gauck-Behörde. Seit 2008 steht er leer und verfällt. Die Bundesrepublik Deutschland, der er gehört, möchte ihn am liebsten teuer an einen Investor verkaufen.
Gebaut wird der 46.000 Quadratmeter große Komplex Haus der Statistik an der Otto-Braun-Straße und Karl-Marx-Allee in den Jahren 1968 bis 1970, und zwar als Sitz der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR. Im Zuge der Restrukturierung des Alexanderplatzes nach sozialistischen Idealen wurden die neun- und elfgeschossigen Gebäude in Plattenbauweise errichtet. Die Architekten sind Manfred Hörner, Peter Senf und Joachim Härter.
Nach Abschluss der Bauarbeiten beziehen die Zentralverwaltung für Statistik und Abteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) das Haus. Im Erdgeschoss richten sich unter anderem zwei Gaststätten und ein Geschäft für Jagd- und Anglerbedarf ein.
Nach der Wende geht der Gebäudekomplex in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland über, die ihn als Sitz für die Gauck-Behörde nutzt.
Seit 2008 steht der Gebäudekomplex leer, die Bundesrepublik will ihn teuer verkaufen.
2017 erwirbt das Land Berlin den Komplex und will ihn unter anderem mit der Künstler*-
inneninitative ZUsammenKUNFT Berlin entwickeln. (sm)
Doch nun verkündet die Initiative, deren damaliger Sprecher der heutige grüne Friedrichshain-Kreuzberger Baustadtrat Florian Schmidt war, dass dort ein Zentrum für Geflüchtete, Soziales, Kunst und Kreative entstehen soll. Berlins Finanzverwaltung reagiert skeptisch. Doch die Initiator*innen sind gut vernetzt, und die Zeit ist reif, darüber zu sprechen, wem die Stadt gehört. Sie wächst – und mit ihr der Verdrängungsdruck. Mieten werden besonders in der Innenstadt nicht nur für Kreative unbezahlbar.
2017 dann der große Paukenschlag, mit dem die wenigsten gerechnet hatten: Der dritte Hauptstadtfinanzierungsvertrag sieht einen umfangreichen Tausch von Liegenschaften vor. Berlin bekommt das Dragonerareal, das Flughafengelände Tegel und das Haus der Statistik, der Bund im Gegenzug das Jüdische Museum, das Haus der Kulturen der Welt, die Akademie der Künste, den Martin-Gropius-Bau und die Schinkel'sche Bauakademie. Der Wert des Hauses der Statistik wird mit etwa 50 Millionen Euro veranschlagt.
Die Zukunft beginnt
Anfang 2018 kommt es zur ersten von drei Kooperationsvereinbarungen: zwischen der Initative, die sich unter dem Namen ZUsammenKUNFT Berlin als Genossenschaft organisiert hat, der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte, der Berliner Immobilienmanagement GmbH, der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und dem Bezirk. Ein Jahr später beginnt die eigentliche Zukunft des Hauses der Statistik. Erste Nutzer*innen ziehen ein. Teleinternetcafé und Treibhaus Landschaftsarchitekten gewinnen das Werkstattverfahren um das Baukonzept für das Areal. Neben dem weitestgehenden Erhalt der Bestandsgebäude sollen dort 66.000 Quadratmeter Neubau entstehen.
Teleinternetcafé und Treibhaus Landschaftsarchitekten gewinnen 2019 das Werkstattverfahren um das Baukonzept für das Areal, auf dem der Gebäudekomplex Haus der Statistik steht. Neben dem weitestgehenden Erhalt der Bestandsgebäude sollen 66.000 Quadratmeter Neubau entstehen: ein gemischter Kiez mit „Stadtplätzen“, „Stadtzimmern“ und „Kieznischen“, die ihn mit der alten Nachbarschaft verknüpfen sollen. Auf Betreiben der Genossenschaft ZUsammenKUNFT Berlin, die die alternative Nutzung des Areals bei der Politik durchgesetzt hat, beginnen verschiedene sogenante Pioniernutzungen in den Erdgeschossen der Gebäude. Diese Nutzer*innen sollen auch während und nach der Bauphase im Haus der Statistik weitermachen.
Ab Sommer 2021 wird hier ein neues Rathaus für den Bezirk Mitte gebaut und 300 bezahlbare Wohnungen, die zusammen 75 Prozent des Neubaus belegen. Die ZUsammenKUNFT soll mit 15.000 Quadratmetern treuhänderisch den Rest des Neubaus erhalten, wovon sie 4.000 Quadratmeter für Kunst und Produktion, 3.000 Quadratmeter für Kultur und Begegnung, 5.000 Quadratmeter für integratives Wohnen und 3.000 Quadratmeter für Bildung entwickeln möchte.
Ebenfalls ab Sommer 2021 sollen die verbleibenden 46.000 Quadratmeter Bestand saniert werden. Diese sollen zu 80 Prozent für Behörden wie zum Beispiel das Finanzamt Mitte und zu 20 Prozent von der ZUsammenKUNFT genutzt werden, allein im Haus A, dem markanten Kopfbau an der Karl-Marx-Allee, will die Genossenschaft 9.000 Quadratmeter mit Kunst, Kultur, Soziales und Bildung bespielen. (sm)
Was der Entwurf vorsieht: ein neues Rathaus für das Bezirksamt Mitte, stolze 90 Meter hoch, weil der Mietvertrag für das alte 2028 ausläuft. Außerdem mehrere neue Wohnblöcke mit bezahlbaren Mieten. Rathaus und städtische Wohnungen werden 75 Prozent der Neubauten belegen. Die ZUsammenKUNFT soll treuhänderisch den Rest erhalten, den sie mit Kunst und Produktion, Kultur und Begegnung, integrativem Wohnen und Bildung entwickeln will. Die verbleibenden 46.000 Quadratmeter Bestand des Gebäudekomplexes, die nicht abgerissen werden, sollen zu 80 Prozent von Behörden wie dem Finanzamt Mitte und zu 20 Prozent von der ZUsammenKUNFT genutzt werden. Allein im Haus A, dem markanten Kopfbau an der Karl-Marx-Allee, erhält sie 9.000 Quadratmeter, dazu große Flächen in den Erdgeschossen, wo vielfältige Nutzungen ein solidarisches Miteinander fördern sollen.
Dieser Entwurf wird gerade in einen neuen Bebauungsplan übersetzt, dessen Fertigstellung frühestens Ende 2021 erfolgt. Trotzdem darf schon jetzt saniert und dürfen auch erste Wohnungen gebaut werden. Die Baukosten sind aufgrund der nicht abgeschlossenen Planung noch nicht klar – und damit auch nicht, wer welche Anteile trägt. Nur so viel steht fest: Für den aktuellen Haushalt hat der Senat Ausgaben in Höhe von 146 Millionen Euro beschlossen. Für den Neubau der geplanten 300 Wohnungen geht man derzeit von 94 Millionen Euro Baukosten aus.
Die neue Geschichte des Hauses der Statistik hat also gerade erst begonnen: Das kann man an diesem eisigen Vormittag in dem großen Bau sehr gut nachfühlen. Trotz Corona und fehlenden Publikumsverkehrs ist hier viel Leben. Seit Mai 2019 arbeiten im Erdgeschoss des Rohbaus, auf den Freiflächen und in einem Flachbau in zweiter Reihe etwa 50 Zwischennutzer*innen. Von der ZUsammenKUNFT Berlin werden sie als Pioniernutzer*innen betrachtet: Sie erproben im Kleinen, was später im Großen entstehen soll. Daher sollen sie auch während und nach Abschluss der Bauarbeiten weitermachen.
Etwa Hiba Al-Bassir von der Syrienhilfe, die sich noch gut an die Hilfsbereitschaft der Nachbar*innen bei der letzten Spendenaktion erinnern kann. „Überall am Alex liefen Menschen mit Tüten herum, die sie nicht irgendwo raus-, sondern zu uns reingetragen haben. Die Säcke häuften sich bis zur Decke“, strahlt sie.
Da sind auch Künstler*innen und Zusammenschlüsse von Aktiven, die recyceln, reparieren oder drucken, andere, die Drohnen zur Unterstützung von Rettungsaktionen im Mittelmeer bauen, und welche, die mit geretteten Lebensmitteln für die Nachbarschaft kochen.
Es gibt einen Chor für die Nachbar*innen, der über die Zukunft der Stadt und des Quartiers singt, auch das experimentelle Kino „Cinema Transtopia“. Die Sozialgenossenschaft Karuna betreibt eine Taskforce, bei der anrufen kann, wer obdachlos ist oder einen obdachlosen Menschen in Not gesehen hat.
Was soll mit all diesen Nutzer*innen werden, wenn im Sommer der Bau beginnt? „Wir wollen keinen auf der Reise verlieren“, sagt Harry Sachs.
Einige hier werden vielleicht rotieren müssen. „Wir denken auch über ausrangierte Container nach, die ehemals von Flüchtlingen genutzt wurden“, so Frauke Gerstenberg.
Und auch darüber, wie man faire, transparente und wirtschaftlich tragfähige Vergabekriterien der Räumlichkeiten in Neubau und Bestand organisieren kann: Wer soll die zukünftigen Mieter*innen auswählen? Und nach welchen Kriterien? Danach, wie engagiert sie sind, wie offen für Zusammenarbeit mit den anderen? Wie kann eine Mischung aus Newcomer*innen und Etablierten gelingen?
„Es ist sehr wichtig, dass wir jetzt loslegen können“, fügt Frauke Gerstenberg an.
Und schließt dabei das Haus der Materialisierung auf, einen unscheinbaren Flachbau in zweiter Reihe vom Bau an der Straße aus gesehen. „Am Anfang hatten wir den Flachbau gar nicht miteinbezogen“, erzählt sie. Inzwischen würden hier einige der aktivsten Nutzer arbeiten. In der Mitte des Raums befinden sich die Lager mit gefundenen Alukoffern, Holzlatten, Gummimatten. Um die Lager herum befinden sich zahlreiche Werkstätten.
Eine davon ist die Mitkunstzentrale von Erik Göingrich, Valeria Fahrenkrog und Andrew Plucinski. Plucinski war von Anfang an dabei beim Haus der Statistik. Sein erster Job: rund 400 der genormten DDR-Papptüren in den Gebäuden aushängen und Neues daraus bauen. Sein letzter Job: Mitten im Raum der Mitkunstzentrale steht eine mobile Küche. Sie besteht aus einer vermeintlich hässlichen Furnierkommode aus dem Fundus der Stadtmission und ist mit einem Zebramuster und modernen Elementen wie einer Kompostschublade unterm Schneidebrett versehen.
Die Küche erzählt viele Geschichten. Eine davon: Schreiner Andrew Plucinski musste in den letzten zwanzig Jahren für seinen Geschmack viel zu oft für seine Kunden zum schwedischen Möbelhaus Ikea fahren – zu jenem Unternehmen also, das laut Presseberichten illegal in geschützten Wäldern der Karpaten rodet, um günstige Wegwerfmöbel zu produzieren. Plucinski ist begeistert von seiner Küche, von der Mitkunstzentrale, vom Haus der Statistik. „Ich kann mir gut vorstellen, mitsamt Werkstatt in einem Container zu hantieren.“ Er blickt beschwingt in die Zukunft, trotz der bevorstehenden Baustelle, trotz der Berliner Wahlen, auch trotz Corona.
„Corona war nicht nur ein Fluch für uns, sondern auch ein Segen“, sagt Harry Sachs. „Wir konnten die Zeit nutzen, interne Planungsprozesse weiterzutreiben.“ Und Frauke Gerstenberg ergänzt: „Es war trotz allem ein sehr politisches Jahr.“ Fragen wie die nach lebendigen Innenstädten, in denen es auch um Gemeinwohl geht, seien angesichts der Pandemie virulenter geworden.
Wenn alles so klappt mit dem Haus der Statistik, wie sich die ZUsammenKUNFT Berlin das wünscht, wenn die Nutzer*innen nach Sanierung und Neubau zu erschwinglichen Mieten bleiben können, wird die Stadt dreißig Jahre lang weniger Mieteinnahmen haben. Ihre Ausgaben für die Instandsetzung des Gebäudekomplexes werden sich langsamer amortisieren. Aber vielleicht wird sie auch etwas weniger darüber nachdenken müssen, wie man die Folgekosten von Corona gesellschaftlich umverteilt. Die Pandemie wird den Immobilienwahnsinn, die Undurchlässigkeit des Berliner Bildungssystems, die zunehmende Armut nämlich eher verschärfen, meinen Harry Sachs und Frauke Gerstenberg.
Der Wind pfeift noch immer um das Haus der Statistik, als Gerstenberg und Sachs zurück auf die Straße treten. Es geht wieder zur Werkstatt, wo früher ein Fahrradladen war und wo sich nun die Gruppe seit zwei Jahren trifft und sich Interessierte informieren können. Der Blick geht auf den Schriftzug „Allesandersplatz“, der den Kopfbau an der Karl-Marx-Allee seit 2019 ziert. Der Blick geht auch auf den Alexanderplatz, wo wie an kaum einem anderen Ort der Stadt Konsum und Elend aufeinanderprallen – ein Platz, der sich kaum mehr von anderen Plätzen in anderen Metropolen unterscheidet. In diesem Jahr wird sich entscheiden, ob im Haus der Statistik auch in Zukunft alles anders bleibt als am Alexanderplatz.
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