Sozialsystem in Italien: Armes Land, arme Menschen
Am 1. Dezember tritt in Italien ein neues Sozialgesetz in Kraft. Die Leistungen für Arbeitslose sind bescheiden und an einige Bedingungen geknüpft.
Neuerdings sind die Armen in Rom mit Besen und Kehrblech unterwegs. Sie platzieren ihren Rucksack in der Nähe eines Hauseinganges oder eines Baums, sie stellen einen Becher für Spenden hin und sie haben ein Pappschild dabei, auf dem zu lesen ist: „Ich will mich integrieren. Ich putze eure Straßen.“
Und das tun sie dann auch, fegen Laub, Kippen und Dreck zusammen und entsorgen anschließend alles in Ruhe. Sie sind zur gleichen Zeit aufgetaucht, der Text ist immer derselbe, und so erscheint die Sache fast wie eine konzertierte Aktion. Sie wollen nicht Mitleid erregen, sie wollen überzeugen: Ich engagiere mich.
Damit sind sie mit Absicht oder nicht ganz auf Linie des Mantras der europäischen Armutsbekämpfung seit Beginn der 1980er Jahre: dem des aktivierenden Sozialstaates, ob er sich nun „solidarité active“ in Frankreich oder „Participatiewet“ (Partizipationsgesetz) in den Niederlanden nennt. Ich helfe dir – aber du musst dafür arbeiten; oder zumindest zeigen, dass du grundsätzlich bereit dazu bist.
In Italien heißt das Äquivalent „Reddito di inclusione“ (REI; Einkommen zu Eingliederung) und tritt zum 1. Dezember dieses Jahres in Kraft. Wer davon profitieren will, muss alle persönliche Daten offenlegen, um dann entweder in eine Bildungsmaßnahme oder in Arbeit gebracht zu werden. Aber die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, wie schwierig sich solche Regelungen in der Realität gestalten – und wie leicht man aus der Falle der Armut in die der Bürokratie geraten kann.
Nicht für alle
Den jüngsten Daten zufolge wächst die italienische Wirtschaft endlich wieder, wenn auch äußerst langsam. Doch die lange Rezession hat Spuren hinterlassen: Bei den Personen mit Armutsrisiko liegt Italien hinter Spanien und Griechenland auf dem dritten Platz. Junge Familien mit vielen Kindern sind doppelt so oft betroffen. Bis vor Kurzem war Italien das einzige Land in der EU ohne ein staatliches System zur Absicherung gegen soziale Not. Die im Frühjahr 2017 beschlossene Leistung REI kommt bei Weitem nicht allen Bedürftigen zugute. Berechtigt sind nur italienische Staatsbürger, EU-Bürger, die seit zwei Jahren in Italien leben, und Ausländer mit unbegrenzter Aufenthaltsgenehmigung und festem Arbeitsplatz.
In den Familien muss mindestens ein minderjähriges, körperlich oder geistig eingeschränktes oder arbeitsloses Mitglied über 55 Jahren leben. Zudem darf das Familieneinkommen im Jahr 6.000 Euro nicht überschreiten, nach italienischer Definition die Grenze zur absoluten Armut. Aber vor allem sind die Leistungen äußerst bescheiden. 484 Euro für eine Familie mit mehr als fünf Mitgliedern, die jedoch nicht bar ausgezahlt, sondern als sogenannte „social card“ für Familien ausgegeben werden, mit der Einkäufe bestritten werden können. Kein Wunder, dass bislang nur ein Bruchteil der Armen überhaupt einen Antrag gestellt hat oder tatsächlich die Bewilligung erhalten wird. Dass die nötige Bearbeitungssoftware noch nicht fertig ist, hilft da auch nicht.
Viel Kritik
Der italienische Staat hat in den letzten Jahren schon so manches System zu sozialen Sicherung erprobt, chaotisch und provisorisch, zeitlich begrenzt – und immer äußerst knauserig. Ein der social card ähnliches System wird etwa seit 2012 im norditalienischen Turin erprobt. Die Uni Turin hat dazu in einer Studie Stimmen gesammelt. Mario ist 36 und lebt im alten Arbeiterviertel Falchera zusammen mit seiner Frau und dem gemeinsamen dreijährigen Kind. Mario hat die Karte bekommen, weil er aus einer sozialversicherungspflichtigen Anstellung in die Arbeitslosigkeit entlassen wurde. Geld wäre ihm lieber gewesen als eine Leistung, „die sehr begrenzt ist und dich immer spüren lässt, dass du weniger wert bist als andere“.
Und das ist genau die Kritik, die die meisten Empfänger in der Studie der Uni Turin äußern. „Wenn du die Karte haben willst, kannst du dich tot telefonieren, bis dir jemand eine Auskunft gibt“, sagt Giovanna. Sie hat zwei Kinder, ihr Mann ist Bäcker, er hat seinen Job verloren. Sie haben Probleme, die Miete zu zahlen, aber dabei hilft ihnen die Karte nicht, sie ist nur für Einkäufe sowie für die Gas- und Stromrechnung. Und letztlich entschieden die Kassiererinnen an der Supermarktkasse, welche Waren sie nun über die Karte laufen ließen und welche nicht. „Das läuft total willkürlich“, sagt Giovanna. Ihre Freundin Miriam, 44 mit zwei Kindern und arbeitslosem Ehemann, bestätigt: „Einmal wollten sie mich keine Matratze für das Kinderbettchen kaufen lassen, da hab ich der Kassiererin gesagt, schau mal, ich habe eine einjährige Tochter, ich brauche die Matratze unbedingt!“
Wer aber entscheidet, was Arme brauchen – und was nicht? Sind es nicht eben vor allem Lebensmittel? „Wenn wir zu den Leuten kommen und sie uns in ihre Vorratsschränke schauen lassen, dann finden wir da immer ganz viel Pasta und Tomatensoße. Das bekommen sie von den Tafeln oder von der Kirchengemeinde. Was sie aber wirklich brauchen, ist Geld für die Miete“, sagt die Soziologin Antonella Meo. „Vor allem müssen wir weg von der moralistischen Arroganz gegenüber den Bedürfnissen der Armen“. Nicht zu diesen Bedürfnissen gehören schon mal Haustiere: Das Futter für sie kann nicht über die Karte abgerechnet werden, genauso wenig wie Bücher, Telefone, Tablets oder Computer. Und Alkohol natürlich auch nicht.
Harte Krise
Das System der Einkaufskarten könnte aber zumindest einen Vorteil haben: dass nämlich nachvollziehbar wird, wofür die Unterstützung tatsächlich ausgegeben wird. Doch dazu hat die Verwaltung trotz all der erprobten Systeme und all der verschiedenen Karten, die ausgegeben wurden, keine Informationen – genauso wenig wie dazu, ob sich die Situation der Familien verbessert. Noch weniger weiß man nur über die Erfolge der Aktivierungsbemühungen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Gibt es solche Erfolge überhaupt oder handelt sich nur um Gerede? Fiorenza Deriu von der römischen Universität La Sapienza sagt: „Wenn die Aktivierung funktionieren soll, dann muss sie individualisiert sein. Und das heißt, dass sie für die Sozialämter enorm aufwendig ist.“
In Turin sind zwei gegensätzliche Dynamiken festzustellen. Die alte, von der Krise hart getroffene Fiat-Stadt hat sich neu erfunden als kreative Metropole, gleichzeitig geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Hier immerhin hat man ein paar Daten parat: Von 900 unterstützten Familien hat die Hälfte Angehörige, die kleinere Arbeiten im kommunal organisierten Non-profit-Bereich übernommen haben. Von diesen hat wiederum die Hälfte Eingang in den regulären Arbeitsmarkt gefunden, ein Viertel also der gesamten Berechtigten.
Oder: Vertrauen
Das sind Zahlen, die Experten als realistisches Ziel anvisieren. Neben dem eigentlichen Erfolg sei aber wichtig, dass solche Ergebnisse einigermaßen den sozialen Konsens für die Leistungen nach außen sicherstellten; und den Bedürftigen selbst vermittelten die Aktivierungsbemühungen, dass ihr Status nicht für die Ewigkeit ganz unten sein müsse, kurz: dass sie eine Chance haben.
Während Italien mit solchen Ideen in sein neues soziales Sicherungssystem startet, ist man anderswo längst weiter. In den Niederlanden experimentiert man statt mit Druck und Kontrolle im Gegenzug für ein paar Almosen mit einem ganz anderen Wort, das man in den Mittelpunkt der Bemühungen stellt: Vertrauen. Die Städte Groningen, Ten Boer, Wageningen, Tilburg und Deventer beteiligen sich an dem Experiment. Tilburgs Bürgermeister Erik de Ridder sagt es ganz einfach: „Wir untersuchen jetzt, ob tatsächlich mehr Zwang oder nicht vielmehr weniger Regeln und Verpflichtungen dem Glück und dem Wohlstand unserer Bürger zugutekommen.“
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
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