Sozialproteste in Frankreich: Eine Reform zum Weinen
Zehntausende fordern in Paris die Rücknahme der geplanten Arbeitsmarktreform. Dabei gibt es Verletzte und es kommt zu Festnahmen.
Damit wollten die Sicherheitskräfte entschieden gegen „Casseurs“ (Randalierer) vorgehen, die die Konfrontation mit der Polizei suchen. Mit diesem Begriff werden summarisch alle bezeichnet, die sich den polizeilichen Anordnungen widersetzen oder die Sicherheitskräfte gewaltsam provozieren. Bis Redaktionsschluss wurden 13 Personen festgenommen.
Das massive Vorgehen der Staatsmacht gegen Zehntausende von friedlich Protestierenden ist ein Zeichen der Schwäche: Es symbolisiert die Art und Weise, wie die weitgehend isolierte sozialistische Regierung in Paris eine Politik durchboxen will, die in der Bevölkerung auf breiteste Ablehnung stößt.
Die Verzweiflung über die an Sturheit grenzende Unnachgiebigkeit der Regierung wirkt radikalisierend. Am Dienstag waren es Tausende, die zum Teil vermummt mit Appellen zum „Aufstand“ wie „Paris debout, soulève-toi!“ (Paris, lehne dich auf) die Ordnungshüter herausforderten. Bei den Zusammenstößen mit der CRS, die zum Teil mit Material eines Baugeländes beworfen wurde, sind mehrere Personen verletzt worden. Dazu kreiste permanent ein Helikopter über den Köpfen der Demonstranten, aus dem wahrscheinlich alles gefilmt und das Vorgehen der Polizeieinheiten koordiniert wurde.
Keine Erschöpfungserscheinungen
„Enorm“ werde diese Demonstration in Paris sein, hatte der Vorsitzende der traditionell den Kommunisten nahestehenden Gewerkschaft Confédération générale du travail (Allgemeiner Gewerkschaftsbund, CGT), Philippe Martinez, vor Tagen angekündigt. Zum großen Leidwesen der Regierung hat er dieses Versprechen gehalten.
Der Widerstand gegen die Arbeitsmarktreform in Frankreich lässt nicht nach. Zusammen mit den anderen Gewerkschaftsverbänden, der links-sozialdemokratischen Force Ouvrière und der globalisierungskritischen Sud-Solidaires, hat die CGT Sonderzüge und Dutzende von Bussen organisiert, damit die Leute in der Hauptstadt für ihr Nein zur Arbeitsmarktreform demonstrieren konnten.
Die Rechnung der Regierung, die auf eine langsame Erschöpfung der Streikenden und einer parallel dazu wachsende Verärgerung der Bevölkerung über die vom Konflikt verursachten Behinderungen im Alltag und im Verkehr gesetzt hat, ist nicht aufgegangen.
„Nein, wir sind kein bisschen müde“, versichert Leila L., die bei der städtischen Müllabfuhr arbeitet und seit 16 Tagen mit ihren CGT-Kollegen den Zugang zur Anlage von Ivry im Süden von Paris besetzt hält. Ihr Streik werde mindestens noch bis Freitag dauern, notfalls aber, bis die bekämpfte Reformvorlage „definitiv und vollständig zurückgezogen“ sei, sagt L.
Großdemo auch in Marseille
Dieselbe Entschlossenheit bringen auch die anderen Teilnehmer an der Kundgebung zum Ausdruck. Da laut Umfragen weiterhin eine Mehrheit von rund 70 Prozent der Bevölkerung gegen die Reform – und letztlich auch gegen die Regierungspolitik insgesamt – ist, fühlen sich die Protestierenden völlig im Recht.
„Nicht wir sind eine Minderheit, sondern die Staatsmacht“, sagt ein Mann, der lauter CGT-Kleber gegen die „Loi El Khomri“ auf seiner Jacke trägt. Zusammen mit Premierminister Manuel Valls, dem liebsten Buhmann der Demonstranten, ist die Arbeitsministerin Myriam El Khomri, die der Gesetzesvorlage ihren Namen geben musste, im Visier der Slogans und Sprechchöre.
Parallel zu Paris demonstrierten auch in Marseille Zehntausende von Gegnern der Arbeitsmarktreform. Diese schwächt die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer gegenüber den Unternehmensleitungen und würde bisherige gesetzliche Bestimmungen zur Arbeitszeit, Vertragsdauer oder Bezahlung der Überstunden weitgehend außer Kraft setzen. Den Arbeitgebern geht diese Lockerung noch zu wenig weit.
Liegengebliebener Müll
Wegen der Fußball-EM und der Präsenz von Medien und Besuchern aus ganz Europa sind alle Augen auf Frankreich gerichtet. Ein Anliegen der Demonstrierenden war es, diesen ausländischen Beobachtern, die oft wenig Verständnis für die französische Streikkultur mitbringen, ihre Motive und Gründe für ihr militantes Vorgehen zu erklären. Die Gäste haben vom Konflikt oft selber kaum etwas gesehen außer den Bildern von gewaltsamen Auseinandersetzungen bei Demonstrationen. Einige aber waren vom Benzinmangel oder Streiks bei der Bahn und im Flugverkehr betroffen.
In einem Teil von Paris wurde wegen des Streiks tagelang der Müll, der sich stinkend in den Straßen stapelte, nicht abgeholt. Vor allem die Hotel- und Geschäftsinhaber, die rückläufige Umsätze mit den Touristen befürchten müssen, schimpfen deswegen über solche Nebenerscheinungen des Konflikts.
Wie groß die Unterstützung und die Solidarität in der Bevölkerung heute, nach wochenlangen Kampfaktionen mit Streiks und Blockaden mit dem Widerstand gegen die Reform ist, kann niemand mit Sicherheit sagen. Klar hingegen ist, dass es vor allem die Regierung ist, die unter Zugzwang steht und dringendst einen Ausgang aus der Krise finden muss. Am Freitag trifft sich El Khomri mit CGT-Boss Martinez.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann