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Sozialpädagoge über Schulschließungen„Die Kinder wären eingesperrt“

Tobias Lucht, Leiter des Kinderprojekts Arche in Hamburg-Jenfeld, sorgt sich um soziale Brennpunkte bei einer zweiten Schulschließung.

Sorge um soziale Brennpunkte: Kinder spielen in einem Raum des Hilfsprojekts „Arche“ Foto: Sebastian Widmann/dpa
Kaija Kutter
Interview von Kaija Kutter

taz: Herr Lucht, Sie leiten das Kinderprojekt Arche im Hamburger Stadtteil Jenfeld. Warum sagen Sie, wir sollten die Schulen offen halten?

Tobias Lucht: Ich spreche aus Sicht der Kinder und Jugendlichen in den Hamburger Brennpunkten. Wir sind mit der Arche in drei Vierteln in Jenfeld, Billstedt und Harburg vor Ort, wo viele Kinder arm sind. Wir haben Schulen mit 65 bis 70 Prozent der Kinder, die von Hartz-IV- und anderen Transferleistungen leben. Für diese Kinder ist es auch ohne Corona eine Herausforderung, den Anschluss nicht zu verlieren.

Wie wirkte die Schließung im Frühjahr?

Der Lockdown war für die Kinder sehr, sehr schwer, auch weil sie die Wohnungen über Wochen quasi nicht verlassen durften. Wir haben hier in der Arche Kinder, die zu sechst, zu siebt, zu acht in zweieinhalb oder drei Zimmern wohnen. Die können dort kaum in Ruhe etwas für die Schule tun. Dazu kommt, dass viele Eltern für ihre Kinder das Beste wollen, aber von der Sprache her nicht helfen können. Da war der Lockdown hart. Wir hatten hier zwei elfjährige Jungen, die mit Suizid drohten, einfach, weil es Zuhause so angespannt war.

Wie denn?

Der eine Junge konnte nichts für die Schule tun. Er hatte kein Handy, keinen Laptop, die Mutter konnte das nicht mit dem Jobcenter organisieren. Er war so mit dem Rücken zur Wand, dass er solche Dinge sagte. Und der zweite Junge, da gab es viele Konflikte mit der Mutter. Das sind extreme Spitzen, die zeigen, was in den Familien los war. Wir haben erst nach den Sommerferien gemerkt, wie groß die Defizite sind.

Die Arche
Im Interview: Tobias Lucht

41, ist leitender Sozialpädagoge der Kinderstiftung Arche, die in Hamburg Projekte in Jenfeld, Billstedt und Harburg betreibt.

Wie merken Sie das?

Wir haben in allen Häusern einen großen Förderbereich für Deutsch, Mathe, Englisch, aber auch andere Bereiche. Wenn dann Erstklässler kaum ein Wort Deutsch sprechen, weil Zuhause nur noch die Muttersprache benutzt wurde, und wenn auch bei Lesen, Englisch und Mathe die Grundlagen verloren gingen, zeigt uns das: Oh, da ist viel aufzuholen. Es kamen auch neue Kinder und baten um schulische Hilfe. Das liegt teils daran, dass andere Einrichtungen immer zu hatten oder mit sehr wenigen Kindern arbeiteten.

Gab es andere Lockdown-Folgen?

Ja. Kinder, die wir schon kannten, kamen mit Auffälligkeiten, mit Ticks und Aggressionen zu uns zurück. Kinder waren übergewichtig, weil sie sich wenig bewegten und ungesund ernährten. Es war ein breites Spektrum an Folgen zu sehen.

Jetzt sind die Schulen offen. Läuft es gut, oder chaotisiert das Coronavirus?

Wir bekommen schon jeden Tag mit, dass einzelne Klassen schließen und Kinder in Quarantäne sind. Weil die dann wieder auch nicht zur Arche kommen dürfen, bringen wir ihnen Hausaufgaben oder Spielmaterial. Das ist für die ein kleiner Lockdown. Aber ganz ehrlich: Mir ist es lieber, die Sachen fallen mal für zwei Wochen aus, als die komplette Schule. Ich spreche jetzt nur für die Brennpunkte. Hier bedeutet Schule für die Kinder: Hier sind meine verlässlichen Ansprechpartner.

Sehen das die Kinder auch so?

Wir haben ältere Jugendliche, die sagen: Sollte ich noch mal über Wochen eingesperrt sein, da kann ich auch von der nächsten Brücke springen. Das ist salopp daher gesagt, aber wenn das ein 16-Jähriger sagt, nehmen wir das ernst. Von daher sind wir eher dafür, stadtteilweise zu schauen und auf jeden Fall nicht im Gießkannenprinzip alle Schulen dicht zu machen, um etwaiges Infektionsgeschehen zu verhindern. Hier in den Brennpunkten haben wir Sorge vor einer zweiten flächendeckenden Schließung.

Die Linke schlägt vor, Klassen zu teilen und in öffentliche Räume wie Bücherhallen auszulagern. Gibt es die in Jenfeld?

Nicht so viele. Brennpunkte sind strukturschwache Stadtteile. Hier wurde die Bücherhalle geschlossen, es gibt kein Kino, keine Museen. Es gibt zwei Kirchen, noch zwei freie Gemeinden, vielleicht ein paar Turnhallen. Grundsätzlich finde ich das aber überlegenswert. Es fehlen aber nicht nur Räume. Man könnte auch sagen, der Unterricht wird auf Vormittag und Nachmittag geteilt. Nur fehlt dafür Personal.

Wann hat die Arche denn auf?

Zu uns kommen die Kinder täglich ab 13 Uhr. Teils auch ab 16 Uhr, wenn sie Ganztagsschulen haben. Es gibt ein kostenfreies Mittagsessen, es gibt Hausaufgabenhilfe, Sport und Freizeitangebote. Die Kinder kommen ja freiwillig zu uns. Unsere Mitarbeiter kennen sie über Jahre. Wir versuchen, sie gut durch den Schulabschluss in eine Ausbildung oder ein Studium zu begleiten.

Muss die Arche auch wegen Corona den Zugang begrenzen?

Leider ja. Jedes Kind darf zwei Nachmittage in der Woche kommen. Es sei denn, es hat Hausaufgaben. Für den schulischen Bereich machen wir Ausnahmen und nutzen auch schon Kirchenräume im Übrigen.

Was fordern Sie von der Politik?

Mehr Differenzierung der Maßnahmen je nach Stadtteil.

Hat der Schulsenator Recht, wenn er die Schulen, so lange es geht, offen hält?

Ich kann nur für die Brennpunkte sprechen: ja. Das mag in einem Stadtteil, wo die Kinder im Haus mit Garten leben oder ein anderer familiärer Rückhalt da ist, anders sein als hier, wo wirklich die Kinder eingesperrt sind.

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2 Kommentare

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  • Ich bin nicht der Ansicht, dass unser Schulsenator oder irgendein anderer Politiker diese Kinder auf dem Zettel hat. Das ist nicht zu ändern, macht aber unfassbar wütend. Die kennen genau wie ich diese Verhältnisse nicht aufgrund persönlicher Erfahrung. Im Gegensatz zu mir treffen sie aber Entscheidungen und haben die Macht. Traurig.

  • Meiner Meinung nach gibt es mehr Möglichkeiten als Schulen mit Regelunterricht oder geschlossene Schulen. Ich arbeite auch in einem Projekt mit Kindern und Jugendlichen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und wir haben die Erfahrungen gemacht, dass es "unseren" Kindern und Jugendlichen gut getan hat, von alternativen Konzepten partizipieren zu können, also Kleingruppenunterricht, Einzelkontakte mit Lehrer*innen, extra-Videokonferenzen etc. ... . Ja es gab auch Probleme, speziell bei Technik und W-LAN, aber es gab durchaus auch viele Vorteile des geteilten Unterrichts, speziell da, wo engagierte Lehrer*innen am Start waren (auch bei nicht unterstützendem Elternhaus). Ich erlebe die jetzige Regelung mit stetiger Gefahr einer Quarantäne und leider oft auch reeller Quarantäne (einige Jugendliche sind bereits das zweite oder dritte Mal in Quarantäne durch Corona-Fälle in ihren Klassen, da fragt übrigens niemand nach Kindeswohl) als viel nervenaufreibender. Noch dazu ist für "unsere" Jugendlichen nicht ersichtlich, warum sie in vollen Klassen sitzen aber ihre Klassenkamerad*innen nach der Schule nicht mehr treffen sollen. Schulschließungen sind auch meiner Meinung nach nicht angesagt, aber kreative Lösungen dazwischen längst überfällig und möglich. Lösungen, die über den Dezember hinaus verlässlich praktiziert werden können und dabei immer das Kindeswohl und weniger wirtschaftliche Interessen im Blick haben.