Soziale Ausgrenzung bei Digitalisierung: Alt, aber kein Idiot
Ein Rentner in Spanien fühlt sich durch die zunehmende Digitalisierung von Banken sozial ausgegrenzt. Die angestoßene Debatte ist bitter nötig.
„Ich bin alt, aber kein Idiot“ lautet die Überschrift der Petition des 78-jährigen Carlos San Juan. Er ist Rentner in Spanien und fühlt sich vom zunehmend digitalisierten Bankservice überfordert. Die angestoßene Debatte ist bitter nötig. Über 20.000 Bankfilialen wurden in den vergangenen zehn Jahren in Spanien geschlossen. An deren Stelle treten oft digitale Dienste.
„Ich bin fast 80 Jahre alt und es macht mich traurig zu sehen, dass die Banken ältere Menschen wie mich vergessen haben“, bemängelt San Juan in seiner Petition. Heutzutage laufe fast alles über das Internet. Immer mehr Filialen würden schließen, die Öffnungszeiten würden gekürzt und der telefonische Service sei sehr schlecht. Oft werde man auf die Bank-App verwiesen. Nicht jede:r hätte Personen im Umfeld, die ihnen dabei helfen können, mit den digitalen Tools zurechtzukommen.
Über 630.000 Personen haben die Petition bereits unterschrieben. Dass das Thema so viele Menschen bewegt, ist nicht verwunderlich: Wer nicht auf sein Bankkonto zugreifen kann, kann weder die Rente abheben noch Überweisungen tätigen. Im besten Fall fehlt die Möglichkeit, Geld für unnötigen Krimskrams zu überweisen, im schlimmsten Fall können digital Ausgegrenzte keine Rechnungen mehr für Strom, Wasser und Miete bezahlen.
Diese Horrorszenarien können vermieden werden, indem etwa die Bankfiliale in der Gegend offen bleibt, sodass ältere Menschen die Option haben, ihr Anliegen persönlich zu klären und von Fachangestellten unterstützt zu werden.
„Neuer Analphabetismus des 21. Jahrhunderts“
Was als Petition im Bekanntenkreis begann, wird nun im spanischen Kongress besprochen. Zudem haben mehrere spanische Banken längere Öffnungszeiten angekündigt. Wirtschaftsministerin Nadia Calviño fordert die Banken auf, bis Ende des Monats einen effizienten Maßnahmenkatalog vorzulegen, der die finanzielle Inklusion fördert.
Spanien hat eine alternde Bevölkerung, jede:r Fünfte ist mittlerweile über 65 Jahre alt. Ein großer Teil davon bleibt beim Onlinebanking auf der Strecke, sie brauchen analoge Alternativen, um zumindest auf die lebensnotwendigen Dienstleistungen zugreifen zu können.
Auch der soziale Faktor von Bankfilialen ist nicht zu unterschätzen: Für viele ältere Menschen bedeutet der Gang zur Filiale eine wichtige soziale Interaktion am Tag mehr.
Dass die Kluft nicht nur zwischen Alt und Jung verläuft, sondern auch zwischen Arm und Reich, zeigt ein im Januar erschienener Bericht der Stiftung Foessa. „Die Pandemie hat einen neuen Faktor der sozialen Ausgrenzung aufgezeigt: die digitale Abtrennung ist der neue Analphabetismus des 21. Jahrhunderts“, heißt es dort. Demnach sind 1,8 Millionen spanische Haushalte von einem „digitalen Blackout“ betroffen. Fast die Hälfte dieser Haushalte gilt als sozial benachteiligt. Sie besitzen kein internetfähiges Gerät, haben keine angemessene Internetverbindung oder sie verfügen nicht über ausreichende digitale Fähigkeiten.
Ein analoges Angebot sollte das digitale ergänzen
In Deutschland ist es ähnlich: Hierzulande befinden sich laut einer aktuellen Befragung 16 Prozent der Bevölkerung im digitalen Abseits. Sie brauchen eine nichtdigitale Alternative. Nicht nur für lebensnotwendige Dinge wie das Überweisen der Miete, sondern auch für Lebensqualität an sich.
Ein gutes Beispiel dafür, wie es besser laufen könnte, sind die Kassen in vielen städtischen Supermärkten. Hier gibt es Expresskassen für diejenigen, die digital, selbstständig und ohne menschliche Interaktion einkaufen wollen. Trotzdem gibt es die Option, sich an die Kasse zu wenden, die von Menschen besetzt ist. Davon haben sowohl Digitalisierungsliebhaber:innen etwas als auch Menschen, die digital nicht fit sind.
Auf den Bankservice angewendet bedeutet das: Auch hier sollte zweigleisig gefahren werden. Die Digitalisierung von Services kann ausgebaut werden, sodass Vorgänge optional online abgeschlossen werden können. Gleichzeitig bleiben die Bankfilialen offen.
Dass eine Petition aus der Zivilgesellschaft nun eine so große öffentliche Wirkung hat, macht Hoffnung. Der Rentner San Juan nimmt die von Banken und Politik angekündigten Schritte wahr. Doch sein Einsatz ist nicht zu Ende. Er will weiterhin Unterschriften sammeln, „bis die Veränderungsversprechen zur Realität werden“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Israelis wandern nach Italien aus
Das Tal, wo Frieden wohnt