Sorge über Rezession: Die Krise von unten betrachtet
Linke sollten nicht in das Gejammer der Unternehmen über rückläufiges Wachstum einstimmen. Für sie sind andere Zahlen wichtig.
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V ielerorts, auch in unserer Zeitung, ist aktuell die Rede von einer Wirtschaftskrise. Ist das angebracht? Klar, die Autoindustrie hat alles verschlafen, ein Hightech-Standort ist dieses Land nicht und keiner will mehr deutschen Stahl. Das deutsche Wirtschaftsmodell ist eine Katastrophe. Doch Linke sollten nicht in das Gejammer einstimmen, mit dem Unternehmensvorstände jetzt Entlassungen rechtfertigen oder Subventionen erheischen wollen.
Erstens ist die Lage komplexer. Noch belegen nicht alle Zahlen eine „Krise“ im klassischen Sinne. So hat beispielsweise der DAX zuletzt sechs Rekorde in Folge erreicht und ist auf einen neuen Höchststand geklettert. Es herrscht Fachkräftemangel und keine Massenarbeitslosigkeit. Sogar Löhne werden dank Tarifkämpfen teils erhöht, etwa in der Metall- und Elektroindustrie. Und für 2025 wird derzeit ein Wachstum von 0,2 Prozent vorhergesagt.
Die Gewinne der Unternehmen steigen also weiter, nur eben nicht so stark wie bisher. Selbst Volkswagen, wo gerade so getan wird, als gehe die Welt unter – und Beschäftigte mit dieser Begründung auf 10 Prozent ihres Lohnes verzichten sollen! – erwartet dieses Jahr noch 18 Milliarden Euro Gewinn.
Zur Erinnerung: Gewinn ist Geld, von dem diejenigen, die es erwirtschaften, also die hart Arbeitenden, nichts kriegen. An dieser Stelle kommt meist das Totschlagargument „Aber die Arbeitsplätze …!“ Freilich ist es schlimm, wenn Unternehmen Leute entlassen, aber das tun diese durchaus auch in Blütezeiten.
Zweitens ist Wachstum kein Garant für das Wohlergehen der Menschen. Die Mehrheit hat nichts davon, erst recht nicht, wenn die Preise enorm steigen so wie in letzter Zeit. Einer der Posten, der die Deutschen, unabhängig von jedem Unternehmensgewinnen, in die Krise reißt, sind explodierende Mieten. Ein anderes Beispiel für schwindelerregende Wachstumseinbrüche lässt sich bei den Renten von Frauen beobachten, die Kinder großziehen. Zu wenig wachsen auch Bürgergeld und Bafög, wie jüngst ein Gerichte urteilte. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Leider spielen diese Kennzahlen in vielen aktuellen Beiträgen keine Rolle. Ob wir in einer Krise stecken, sollten wir ausgehend von unserer eigenen wirtschaftlichen Position bewerten – nicht aus Sicht der Unternehmen. Dann käme vielleicht heraus, dass die wahre Krise schon vor Jahren begonnen hat.
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