piwik no script img

Sonnenallee in Berlin-NeuköllnGroße Kunst in Architekturperle

Auswärtige kennen es, Einheimische eher weniger: Neben dem Neuköllner Schifffahrtskanal liegt das höchst kunstambitionierte Kongresshotel Estrel.

Estrel-Schild auf dem Dach des Hotels. Innen gibt es auch eine hochwertige Kunstsammlung zu sehen Foto: Jens Gyarmaty

Berlin taz | „Estrel“ – das klingt so schön nach „Estoril“, nach Riviera unterm Sternenhimmel. Tatsächlich aber liegt das bekannteste Vier-Sterne-Hotel der Sonnenallee, jene postmoderne Architekturperle in Form eines stilisierten Ameisenbärroboters, nur zugig und semimaritim neben dem Neuköllner Schifffahrtskanal. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich der Name des Hotels – wohl dem Metier entsprechend – als Kofferwort aus „Ekkehard“ und „Streletzki“ versteht, dem Vor- und Nachnamen seines Besitzers.

Das wussten Sie schon? Aber ist Ihnen auch bekannt, dass Herr Streletzki gemeinsam mit seiner Frau Sigrid eine Kunstsammlung mit Werken renommierter zeitgenössischer Künst­le­r:in­nen im Umfang der Sammlung einer größeren Megayacht besitzt – und dies für alle sichtbar im Atrium und im gesamten Hotel- und Kongressbereich? Lautet Ihre Antwort nun „Nein“, dürften Sie Ber­li­ne­r:in sein, denn im Gegensatz zu Ihnen haben alle anderen Bun­des­bür­ge­r:in­nen im nach eigenen Angaben größten „Hotel-, Congress-&-Entertainment-Center Europas“ in ihrem Leben entweder schon gefühlt einmal übernachtet oder zweimal bei „Stars in Concert“ geklatscht.

Haben Sie die letzte Frage allerdings bejaht, werden Sie sich sicherlich daran erinnern, dass in fast allen 1.125 Zimmern „spannende Originale russischer Künst­le­r:in­nen hängen“, und vielleicht ist Ihnen Herr Streletzki auch schon einmal mit einem seiner bekanntesten Zitate auf den Lippen im Flur entgegengeeilt: „Wenn man in jedem Zimmer nur fünf Minuten bleibt, um die Kunst zu betrachten, dann bräuchte man sechs Tage und acht Stunden“.

Dies jedenfalls (für Sie nachgerechnet: Wir kommen auf drei Tage und acht Stunden) verrät er der Sammlungsmanagerin, der Bunte-Kolumnistin Mon Muel­lerschoen, im Katalog zur hauseigenen Sammlung. Und was vordergründig entweder nach Drohung oder nach Steilvorlage für „Wetten, dass..?“ klingt, gewährt nur eine leise Vorahnung! Denn wie viele Tage erst muss man im Hotel spannende Originale russischer Künst­le­r:in­nen betrachten, wenn der nebenan im Bau befindliche „Estrel Tower“ nach seiner Fertigstellung (circa 2024) mit 176 Metern und 525 Zimmern und Suiten auf 45 Etagen das höchste Haus Berlins sein wird? (für Sie überschlagen: 5,66 Tage).

Sonnenallee vor der Wahl

Berlin wählt. Schon wieder. Die vergangene Wahl war ungültig. Niemand wundert sich darüber. Berlin gilt als kaputt. Geht überhaupt was in der Stadt?

Seit dem Jahreswechsel ist die Sonnenallee im Bezirk Neukölln in aller Munde. Für die einen ist sie Ausdruck einer virilen Großstadt, andere haben Angst, wenn sie nur an den vielen arabischen Läden vorbeigehen. Wer die oft arg aufgeregte Debatte um Clans und Paschas verfolgt, muss glauben, an der Sonnenallee entscheide sich das Wohl und Wehe aller Integrationsbemühungen.

Und sonst? Die Straße hat noch mehr Berlin zu bieten. Sie beginnt am Hermannplatz, wo ein gigantisches Kaufhausprojekt geplant wird. Das Gentrifizierungsgespenst geht um. Und sie endet da, wo früher Ostberlin war. Also: Schaut auf diese Straße!

Die taz widmet deeer Sonnenallee ein Dossier zur Berlin-Wahl.

Alle Texte finden Sie hier taz.de/sonnenallee

Große Kunst wohnt im Estrel

Im Estrel wird also hoch gesammelt. „Hier wohnt große Kunst“, heißt es auf der Sammlungswebsite, und wem das zu sehr nach Deichkind-B-Seite klingt, der hat doch wohl etwa nicht Anselm Reyles thronend im Atrium aufgehängte 5,66-mal-5,66-Meter-Aluminiumarbeit „Windspiel (Raute; Diamond)“ übersehen? Dabei ist es womöglich gar kein windsimulierender Motor, sondern ein herüberwehender Genius Loci, der hier für die nötige Bewegung sorgt – befindet sich des Künstlers sagenumwobenes Ateliergelände doch „nur eine kurze Joggingrunde vom Estrel Berlin entfernt“ (für Sie nachgejoggt: hin und zurück 6,4 Kilometer).

„Oh, wie schön ist Ostberlin!“, ruft man also – Friedrich Merz in Gedanken – das Atrium betretend aus, vorbeiflanierend an Erwin Wurms bodypositivem, männlichen Bauchfrei-Model „GOOF“ (Bronze mit schwarzer Patina) zur Rechten, Peter Halleys abstrakten, farbenfrohen Acrylgemälden zur Linken. Aber, Moment! Ist das gar keine Kunst, sondern ein kaputtes Leitsystem des Hotels? Jein, denn wie es so schön im Katalog heißt, können Halleys Werke „auch als Kritik an einer Gesellschaft verstanden werden, die sich zunehmend von Systemen der Kommunikation abhängig macht.

Genau aus diesem Grund war Halley begeistert, dass seine Arbeit im Estrel über zwei Monitoren hängt.“ „… oder kann das weg?“, meint man hingegen gleich daneben diejenigen Gäste zu hören, die mit ihren Trolleys eine nicht vorgesehene Abkürzung zwischen Rezeption und Atrium nehmen. Sie quetschen sich durch eine enge Lücke zwischen Andreas Schmittens Arbeit „Wald“ und einem architektonisch unabdingbaren Pfeiler („dabei steht der,Wald’ mit seiner Minimal-Art-Präsenz doch direkt vor einem – im Estrel Berlin“).

Ärgerlich wiederum für jene Gäste, die sich räsonierend auf der Ledersitzgruppe neben Schmittens „riesiger Installation“ niedergelassen haben – so kommt man nicht zum Lesen! Dabei befindet sich hier doch eine ebenso riesige Schrankwand mit Kunstbibliothek und Kaminfeuer-Video.

Kontext auf mehreren Regalmetern: Monografien, hier und da eine Sleek oder ein Gagosian-Katalog, aber auch Burton Andersons „Die 100 besten italienischen Rotweine“! Interessant auch der wuchtige Katalog der Art Basel 2017, schräg und etwas verloren in einer Regalecke. Ein besonders guter Jahrgang? Geht so, er verdeckt nur die dahinter eingelassene Steckdose.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!