Sonnenallee in Berlin-Neukölln: Allee der Barbiere

Die Sonnenallee ist kein Prachtboulevard, aber prächtig. Sie ist laut, meist friedlich, ein Ort des Nebeneinanders – das zum Miteinander führen kann.

Ein junger Mann hat ein Symbol auf seinem Kopf einrasiert. Er steht vor einem Barbershop

Jede Menge interessantes Leben: vor einem Barbershop in der Sonnenallee: Foto: André Wunstorf

BERLIN taz | Damals sah diese fette Straße abgewrackt aus. Viele Geschäfte zugenagelt, besonders in den Seitenstraßen, nix vom angeblich coolen Flair an ihrer allerletzten Ecke, die bis 1990 zur DDR gehörte und zu der es einen Film gibt: „Sonnenallee“. 1999 war das Ostzonenkitsch, aber dieses Stück Sonnenallee zwischen der volxtümlich sommers immer gut besuchten Minigolfanlage am Hertzbergplatz und dem Hermannplatz, das war trist. Billig die Mieten, sehr billig, 50 Quadratmeter für 420 Deutschmark, top renoviert, sogar öko, wenngleich das Treppenhaus Nachkriegsflair hatte.

Mein Vermieter sah schon morgens wie ein abgearbeiteter Maurer aus, gut gelaunt, der Umgang insgesamt robust, und die Kollegen in der szenebewussten taz freuten sich nur höflich bei meiner Nachricht, ich hätte eine feine Wohnung in Berlin gefunden. Man musste auch mal Glück haben: Der Mann suchte für seinen Wohnblock dringend Leute, deren Mieten er nicht beim Sozialamt einklagen musste. Neukölln? Gott bewahre, das doch nun wirklich nicht.

Berlin wählt. Schon wieder. Die vergangene Wahl war ungültig. Niemand wundert sich darüber. Berlin gilt als kaputt. Geht überhaupt was in der Stadt?

Seit dem Jahreswechsel ist die Sonnenallee im Bezirk Neukölln in aller Munde. Für die einen ist sie Ausdruck einer virilen Großstadt, andere haben Angst, wenn sie nur an den vielen arabischen Läden vorbeigehen. Wer die oft arg aufgeregte Debatte um Clans und Paschas verfolgt, muss glauben, an der Sonnenallee entscheide sich das Wohl und Wehe aller Integrationsbemühungen.

Und sonst? Die Straße hat noch mehr Berlin zu bieten. Sie beginnt am Hermannplatz, wo ein gigantisches Kaufhausprojekt geplant wird. Das Gentrifizierungsgespenst geht um. Und sie endet da, wo früher Ostberlin war. Also: Schaut auf diese Straße!

Die taz widmet deeer Sonnenallee ein Dossier zur Berlin-Wahl.

Alle Texte finden Sie hier taz.de/sonnenallee

Der schlechte Ruf sollte noch einige Jahre andauern, aber er entsprach schon damals nicht der Realität. Die Lebensmittelabteilung bei Karstadt am Hermannplatz war auch vor einem Vierteljahrhundert teurer als ein Discounter und – wohlsortiert – eher wie ein Juwelierladen. Es gab offenbar Kundschaft, die das ganze Höherpreisige am Leben hielt; die schon damals vorzüglichen Ergebnisse für die Grünen bei Wahlen sprachen auch dafür, dass unter der trashigen Oberfläche des ersten Augenscheins anderes präsent ist: gediegene Bürgerlichkeit in Wohnungen mit abgeschliffenen Holzböden.

Die sind heute offenkundig, auch wenn die Nachrichtensendungen da nicht richtig mitkommen. „Silvesterböllerei“ rund um die Sonnenallee, wie zum Jahreswechsel 2022/ 23 Jugendliche und jungmännliche Gewalthorden die Polizei und Feuerwehr aushebeln? Gab’s schon immer, falls man das hier sagen darf, und einst hießen die Jungs nicht so, wie es die CDU gern offiziell erführe, sondern: Hans-Jürgen, Dieter, Klaus und Peter.

Schlauchige Gehwege

Die Sonnenallee, das ist eine kilometerlange Straße, die von der Buslinie M41 befahren wird, fast immer voll, im Tempo eher schleppend als zügig; die Fußwege eigentlich viel zu schlauchig, denn die Lokale bieten natürlich Außenplätze – Lokale, die diese Avenue seit einigen Jahren säumen, genauer gesagt: seit die Erasmus-Crowd und andere angehende Aka­de­mi­ke­r*in­nen aus finanziellen Gründen ins Viertel zogen, aber hauptsächlich Einwandernde aus Syrien. Diese Lokale sind in Reiseführern inzwischen gelistet.

Die Sonnenallee, an der früher noch jugoslawische Restaurants oder vietnamesische Nicht-Edel-Imbisse lagen, ist arabisch dominiert, mit albanischen Einsprengseln. Die Türken sind meist weg, eine Änderungsschneiderei hat sich halten können, ansonsten sagen sie: „Ich bin nach Rudow gezogen, war mir zu voll hier, die Kinder sollen im Grünen aufwachsen.“ Ausgerechnet der Stadtteil der letzten Station der U7, ganz weit draußen, fast schon Brandenburg und Flughafen – Ruheplatz der vom Quirligen Erschöpften und Entnervten.

Nicht dass die Sonnenallee inzwischen wie aus dem Grunewald geschöpft aussieht, nein, einen gewissen Elendsschick hat sie sich bewahren können, die Sache mit dem Müll ist auch nicht rund um die Uhr in den Griff zu kriegen. Aber er hat sich gemacht, dieser Boulevard. Keine Milchgeschäfte mehr, keine Schuhmacher, keine Delikatessalkoholläden mit vormittäglichen Trinkergemeinschaften, dafür arabische Brautmoden und Gardinenläden.

Parallelwelt in der Parallelstraße

Die Hipster und ihre Lokale siedeln eher in den Seitenstraßen, also in der Pannier- oder Bouchéstraße, vornehmlich aber, parallel zur Sonnenallee, in der Weserstraße, ein Catwalk auch queerster Flanierwünsche. Hier sind die Orte, an denen der frühere Politpromi Jens Spahn mehr Deutsch zu hören wünschte, dafür jetzt: Englisch (in allen Radebrechungsschattierungen), Spanisch, Italienisch, Hebräisch, Ungarisch … you name it.

Was das bewirkt hat, ist klar. Prenzlauer Berg und andere Quartiere wurden zu teuer, Neukölln konnte man sich leisten. Wer das vielleicht nicht bewirkt, aber angestupst hat, war der frühere Bürgermeister Neukölln, Heinz Buschkowsky, der durch verschiedene bezirkliche Behördenkniffe in die leerstehenden Läden Galerien und Kneipen lotste – und in Allianz mit der Gattin des früheren Bundespräsidenten, also mit Christina Rau, die verrufene Rütli-Schule zum Mustercampus ausbaute, besonders für Schü­le­r*in­nen aus der Gegend. Die Sonnenallee blieb im Zen­trum – und ist heutzutage faktisch die Pulsader des Bezirks.

Auffällig ist diese Straße auch deshalb, weil es hier die vielleicht größte Männerfrisördichte des ganzen Landes gibt. Die Salons, circa 50 an der Zahl, sind arabische Domänen, einzelne Barbershops sind in albanischer Hand, allesamt bieten sie beste Schneide- und Rasierkunst mit der Neigung nicht zur Schere, sondern zum akkuraten Rasieren der Seitenköpfe. Heraus kommt fast durchweg so eine Art millimeterakkurate Undercut-Kultur.

Viele eint ein Bekenntnis zum Palästinsensertum, qua Herkunft, eine Landkarte zur Dekoration an manchen Wänden der Barbierstuben ist üblich, auf der Linien im Sinne von „Palestine will be free / from the river to the sea“ gestrichelt sind. Israel gehört in gewisser Weise zu den Tabuthemen, wobei mein Lieblingsfrisör, der seinen Namen nicht erwähnt sehen möchte, sagt – glaubwürdig –, gegen Juden habe er nix, neulich habe er „drei Kunden dieses Glaubens“ auf seinem Stuhl gehabt: Er nähme sie alle, das Leben sei zu kurz, um sich mit Politik zu beschäftigen. Er sei froh, dass seine Eltern es gerade aus dem Libanon geschafft hätten, denn dort sei alles korrupt und kaputt.

Nebenbei, eine erfreuliche Entwicklung der Vermischung aller möglichen Herkünfte, auch deutscher: Die Barbershops werden mehr und mehr auch von Urberlinern besucht, und zwar weil sie erstens dort gut betreut werden, zweitens die Arbeit dort tiptop ist, drittens die Barberkultur antimultikulturelle Lichtjahre von doitschem Frisörhandwerk (Fassong!) entfernt liegt. Es herrscht außerdem keine dumpfe Stille über allem, sondern, wie es sich in faktisch autonomen Männerzentren, die sie auch sind, gehört, eine redselige Munterkeit. Sie sind, so oder so, kommunikative Rückgrate dieser Straße.

Die üblichen Leerstellen

Sonnenallee, das ist auch eine Straße, auf der Themen ausgespart werden, wie überall. Dass zum Beispiel abends Frauen arabischer Prägung nur selten in den Cafés und Essenslokalen zu sehen sind; dass die Jugendlichen, die zu Silvester aggressiv böllerten, eher nicht vom Rande dieses Teils der Straße kommen, sondern aus den Siedlungen am Ende, wo es ins Terrain des früheren Ostberlin übergeht, Endstation Baumschulenweg. Die Polizei sagt, rund um die Sonnenallee gäbe es im Alltag nicht mehr Kriminalität als anderswo, etwa in Mitte, Schöneberg oder Kreuzberg, man versuche, die Nervosität wegen der materiell dürftigen Lebenslagen der Bür­ge­r*in­nen im Zaum zu halten.

Man wird hier auch gern mal nachts gefragt. Hast du vielleicht ’n Euro? Oder: Kann ich mir bei dir eine drehen? Einer rief mal, als er überhört wurde, in leicht verzweifeltem Ton und nicht böse: Ach, sei doch nicht so geizig!

Die Sonnenallee hat ein besonders freundliches Flair, wenn sie am Wochenende gesperrt ist: Dann gibt es Budenzauber, Rummel, laute Musik. Die Hipster halten sich dann raus, nicht ihre Kultur. Aber sie alle, wir alle!, leben meist zivilisiert nebeneinander her, je nach Wohndauer im Viertel mit entsprechend vielen Nachbar- und Grußverhältnissen. Es war nie und ist eben kein Dorf, nur ein Kiez, der (noch?) nicht zur einschläfernden Wohltemperiertheit wie etwa rund um den Rosenthaler Platz oder der Schönhauser Allee verkommen ist.

Es gäbe vermutlich nur einen Umstand, der alle sofort einte, auf die Straße brächte, empört, ja, wütend: Wenn der Mittelstreifen dieser Sonnenallee wieder, wie zuletzt vor einem halben Jahrhundert, von Parkplätzen befreit würde – entweder zugunsten einer Tram oder einfach nur als Catwalk für alle, auf dass die Blick- und Grußfreundschaften weiter gedeihen. Das wäre mit den Aufstiegswünschen vieler an der Sonnenallee, wo die Autos immer breiter und die Parkplätze immer knapper werden, so gar nicht vereinbar.

Es bleibt eben eine ökologische Wüste, nicht besonders begärtnert. Dafür ist da jede Menge interessantes Leben. Man kann sich aussuchen, was einem mehr behagt.

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