Solidarische Gemeinschaft: Durch ein Land der Mitte mit Maß
Wer mit dem Zug strandet, dem begegnet schon mal das gute, alte Mittedeutschland. Es ist antihysterisch und halbwegs moderat.
F reitag, ein Nachmittag, Hauptbahnhof Berlin. Der ICE gen Frankfurt steht fahrbereit, Menschen steigen ein, alle Plätze sind rasch vollends besetzt. „Guten Tag, liebes Bahnpublikum, herzlich willkommen auf dem Weg in den Süden. Vielleicht freuen Sie sich auf die Reise, so wie ich auch. Wir werden pünktlich abfahren, aber schon jetzt weiß ich, dass wir in Halle mit einer Stunde Verspätung ankommen werden, manche Gleise, über die wir fahren sollten, sind verstopft, wir müssen so uns durch Brandenburg einen Weg suchen, aber alle sind sicher.“
Mir egal: Nach Frankfurt ohnehin zwei Stunden Zeitpuffer eingebaut. Dschungelartige Landschaft zu den Seiten, da kommt Jüterbog, schließlich die Elbe, jetzt Dessau. Der Zug fährt langsamer, er kommt zum Halt. „Wir halten hier jetzt, genau an einem Bahnhof, wie er heißt, weiß ich auch noch nicht. Aber wir haben vor uns Menschen im Gleis, die wollen wir nicht überfahren. Einige Türen in der Mitte werden geöffnet, die Raucher können mal eine schmöken gehen.“
Wir liegen schon 55 Minuten jenseits vom Fahrplan. Doch niemand meckert, keiner pöbelt oder ruft hysterische Dinge in ein Smartphone. Man hilft sich aus der Tür auf den Bahnsteig, eine spontane Solidargemeinschaft; es bilden sich erste Erzählrunden, alles gemischt, das ganze moderne deutsche Potpourri aus Weißen und dunkleren Hautfarben. Es wird sogar gelacht. Die Atmosphäre hat etwas Gesamtseufzendes: Kann man ja nicht ändern.
Nach 54 Minuten geht’s weiter, wir passieren Erfurt, Fulda … So mag ich unser Land: Sich mit dem Gegebenen auseinandersetzen, Lösungen finden, sich arrangieren, irgendwie. So muss man sich wohl die deutsche Mitte vorstellen: auch hinnehmend, kompromissfähig, situationsbewusst, improvisationsfähig. Also antihysterisch und halbwegs moderat, quasi triebgehemmt. Eine Mitte, die keine Extreme wünscht, die AfD für unappetitlich hält und ultralinke Allüren als nervend nimmt – und halbwegs aushält, dass nicht alles immer und überall nach eigenem Geschmack läuft. Bloß kein Hass!
Das ist deutschgelerntes Verhalten aus vergangenen Jahrzehnten. Das selbstverordnete Programm, so sei das genannt, lautet: Verzicht auf Ideologisches, kein weltanschauliches Angebergelaber, der Laden muss nur laufen, insgesamt und persönlich verstanden, die anderen sollen einen in Frieden lassen. Deutschland ist so zum europäischen Mittelmaß geworden, eine gelungene Therapie der Nachnazizeit. Nächstenliebe und Fernstenliebe manchmal, aber nicht bedingungslos. Deutschland ist das Prinzip Nachbarschaft (geworden). Halbwegs gelungen so.
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