Siegfried Unseld und die NSDAP: Der geheime Schuldmotor eines Verlegers
Siegfried Unseld war Mitglied der NSDAP. Dass der Suhrkamp-Patriarch es verschwieg, wirft ein irritierendes Licht auf die alte Bundesrepublik.
Die Darstellung des Historikers Thomas Gruber in der Zeit vom 10. April ist überzeugend: Siegfried Unseld, als Suhrkamp-Chef Zentralverleger der alten Bundesrepublik, war Mitglied der NSDAP – Karteinummer 9 194 036 –, und zwar, alles andere wäre unplausibel, aus eigener Überzeugung.
Am 8. Juni 1942, auf den der Aufnahmeantrag datiert ist, waren Hitlers Armeen auf dem Höhepunkt ihrer Machtausdehnung, die Bürokratie des NS-Staates funktionierte hervorragend. Ein Versehen oder eine unwissentliche Parteiaufnahme sind so gut wie ausgeschlossen, zumal die Doktrin der NSDAP, „Partei der Überzeugten, nicht der Lauen“ zu sein, uneingeschränkt galt.
22 Jahre nach seinem Tod muss somit die Biografie Siegfried Unselds zwar nicht von Grund auf neu geschrieben, aber doch gründlich gegen den Strich gebürstet werden.
Nicht bekannt war seine Parteimitgliedschaft
Siegfried Unseld war im Juni 1942 17 Jahre alt. Dass er aus einem nationalsozialistisch gesinnten Elternhaus stammte, dass er dann Angehöriger der Wehrmacht war, am Kriegsende Marinefunker bei Hitlers Nachfolger Admiral Dönitz in Flensburg, das ist bekannt. Nicht bekannt war seine Parteimitgliedschaft, offenbar hat er sie ein Leben lang verschwiegen. Als neulich sein 100. Geburtstag feierlich begangen wurde, spielte dieser Aspekt keine Rolle.
Unbestritten bleiben die Verdienste, die sich Unseld erworben hat. Die Werke der großen Exilanten, von Adorno, Benjamin und Brecht, die Schriften von Peter Weiss zum Auschwitzprozess, viele andere Bücher, die zum Bildungsroman einer Bundesrepublik gehören, die sich nach vielen Umwegen schließlich doch der deutschen Schuld bewusst geworden ist, sie wurden von Unseld verlegt. Aber das lebenslange Beschweigen des Maßes der eigenen, wenn auch jugendlichen Verstrickung bleibt irritierend.
Alexander Cammann, Feuilletonredakteur der Zeit, spricht, um die beispiellose Energie Unselds nach dem Krieg zu erklären, von einem „geheimen Schuldmotor“. Das ist nicht abwegig. Und zu den Kosten, diesen Motor am Laufen zu halten, gehörte eine lebenslange Abspaltung. Jeden Autorenbrief, jede Reiseabrechnung hat er aufbewahrt, aber seine Parteimitgliedschaft vergessen? Der Bildungsroman der Bundesrepublik führte über krumme Wege.
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