Sexualaufklärung in den Niederlanden: Frühlingsgefühle unter Druck
Kulturkampf in den Niederlanden: Christliche Fundamentalisten mobilisieren gegen eine Sexualkundeprojektwoche an Grundschulen.

Woher kommen Babys? Was sind die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen? Wie fühlt sich Verliebtheit an? Jedes Jahr im Frühling werden an vielen niederländischen Grundschulen solche Fragen behandelt. Der Rahmen dafür ist eine Projektwoche namens Week van de lentekriebels (Woche der Frühlingsgefühle). Organisiert wird sie vom Expertisezentrum Rutgers und dem landesweiten kommunalen Gesundheitsdienst GGD. Die Teilnahme ist freiwillig.
Letzte Woche fanden die Lentekriebels zum 20. Mal statt. Doch ausgerechnet zum Jubiläum war die Stimmung alles andere als festlich. An immer mehr Schulen regt sich Widerstand von Eltern, die fordern, ihre Kinder sollten an den betreffenden Stunden nicht teilnehmen oder die ihre Kinder gleich zu Hause lassen. Pünktlich zum Start wurde eine Umfrage veröffentlicht: Von 426 teilnehmenden Schulleitungen gaben 46 Prozent an, bei ihnen habe es im letzten Jahr entsprechende Vorfälle gegeben, die in Ausnahmen bis zur Bedrohung von Lehrpersonal reichten. Bei der letzten Umfrage 2022 waren dies noch 19 Prozent.
Angst, kulturelle Hintergründe, Religion, Medienberichte zum Thema und die Idee, dass ihre Kinder zu jung seien – diese Gründe nennen die Schulleitungen für die Proteste der Eltern, so ein Bericht des Algemeen Dagblad. In der Regel handelt es sich dabei um tatsächlich sehr wenige Eltern. Doch der Anstieg – mehr als eine Verdopplung in zwei Jahren – ist bemerkenswert. Unterstrichen wird er von einer anderen Statistik: Während 2022 noch 43 Prozent der Grundschulen teilnahmen, waren es im letzten Jahr nur noch 36.
Die Organisator*innen wiederum haben sich zum Ziel gesetzt, Eltern bezüglich Sinn, Zweck und Inhalte der Projektwoche aktiv einzubeziehen. Auf der Website seksuelevorming.nl wird teilnehmenden Schulen geraten, den Erziehunsgberechtigten „lange vor Beginn“ zu erklären, warum diese Art von Unterricht wichtig sei: Kinder hätten das Recht auf altersgemäße, verlässliche Informationen zum Thema Sexualität und Beziehungen, nicht zuletzt um die eigenen Grenzen äußern zu können. Würden Eltern darüber indes nicht ausreichend informiert, könne das bei ihnen „Fragen und Sorgen auslösen“.
„Woker Unsinn“.
Auch das TV-Magazin „Een Vandaag“ beleuchtete zum Jubiläum die Elternperspektive. Eine Umfrage unter mehr als 1.400 Personen liefert ein ambivalentes Ergebnis: Während zwei Drittel der Teilnehmenden die Projektwoche begrüßen, weil sie Kinder stärker und selbstsicherer mache, würde es ein Viertel bevorzugen, wenn die Schule ihres Kindes nicht teilnähme. Beweggründe reichen von der Überzeugung, die Kinder seien zu jung, bis hin zu einem abschätzigen „woker Unsinn“.
Formulierungen wie diese zeigen, dass der Stimmungswandel Teil eines größeren gesellschaftlichen Umschwungs ist. Ebenfalls in der Sendung „Een Vandaag“ berichtet Josien Branbergen. Direktorin der Amsterdamer Grundschule De Regenboog: „Vor 20 Jahren war es eine entspannte Woche mit viel Energie. Wir eröffneten sie mit Ballons auf dem Schulhof gemeinsam mit Eltern und Kindern.“ Heute werde „viel behutsamer und prüder“ mit dem Thema umgegangen. Lehrkräften seien unsicher, „weil sie niemand vor den Kopf stoßen wollen“.
Hinter dieser Entwicklung steckt ein konservativer Kulturkampf, der bei Weitem nicht auf die Niederlande beschränkt ist. Kennzeichen: eine strikt ablehnende Haltung gegenüber Frauenrechten, LGBTIQ+-Themen und Genderpolitik, die Darstellung sexueller Diversität als Gefahr traditioneller Familienwerte und die Verteufelung von Sexualkundeunterricht als ‚Früh-Sexualisierung‘. Just diesen Vorwürfen sehen sich auch die lentekriebels und ihre Organisator*innen zunehmend ausgesetzt.
Im internationalen Kontext spiegeln sich solche Tendenzen im Verbannen von Büchern zu entsprechenden Themen in US-amerikanischen Schulbibliotheken, in den Kampagnen rechtspopulistischer oder -extremistischer Protagonist*innen wie Giorgia Meloni oder Jair Bolsonaro, die sogenannten „LGBT-freien Zonen in Polen“, dem ungarischen Pride-Verbot, die AfD-Pläne zur drastischen Einschränkung des Rechts auf Abtreibung – die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Grenzen ziehen
Deutlich wird dabei, dass es nicht nur um ganz neue Entwicklung geht. Der „World Congress of Families“, der globale Vertreter*innen der christlichen Rechten verbindet, wird bereits sei 1997 veranstaltet. Speziell bei den Auflagen 2017 in Budapest und 2019 in Verona zeigte sich die Nähe zu den jeweils regierenden Rechtsparteien Fidesz und Lega. Die Anwesenheit bekannter rechtspopulistischer Protagonist*innen seither unterstreicht, dass die rabiate Ablehnung gegen jegliche Frauen-, Gender- oder queere Politik ein Amalgam zwischen der religiös-bürgerlichen und der extremen Rechten ist.
In den Niederlanden zeigt sich dies an den Aktivitäten der ultrakonservativen katholischen Stiftung Civitas Christiana. Laut Selbstbeschreibung kämpft diese „für den Sieg der christlichen Traditionen, der Familie und der Freiheit der Niederlande“ und „gegen den aufrückenden Multikulturalismus, die Gender-Ideologie und die Kultur des Todes“. Auf ihrer Website zählt sie mehrere Kampagnen auf, mit deren Hilfe sie die öffentliche Meinung zu beeinflussen gedenkt. Dazu zählt der „Pro Life“- Protest vor Abtreibungskliniken sowie die Themen „Kultur unter Beschuss“ und „Familie in Gefahr“.
Prominent bei Letzterem ist neben Aspekten wie „Pädophilie“, „Gender-Geschwätz“ und „Transgenderismus“ auch die „Woche der Frühlingsgefühle“. Ein gratis angebotenes „Schwarzbuch“ über diese will aufdecken, worum es dort „wirklich“ gehe. Ebenfalls im Visier ist der „Purple Friday“, der seit 2010 an zahlreichen niederländischen (Hoch-)Schulen für sexuelle Gleichberechtigung und Solidarität mit queeren Schülerinnen und Studenten stattfindet. Auch gegen diesen im Herbst begangenen Tag regt sich in konservativen und rechtspopulistischen Kreisen in den letzten Jahren erheblicher Widerstand.
Beim Expertisezentrum Rutgers sieht man diese Kampagnen als gezielte Desinformation und hat Civitas Christiana vor Gericht zitiert, um per einstweiliger Verfügung deren „anhaltende Lügen und Verleumdungen“ zu stoppen. Mitte April, so eine Rutgers-Pressesprecherin auf Anfrage der taz, werde das Urteil erwartet. Luc Lauwers, der stellvertretende Direktor, erklärte gegenüber dem öffentlich-rechtlichen TV-Sender NOS: „Jeder hat eine eigene Perspektive, Normen und Werte. Das ist ein hohes Gut in einer freien Demokratie. Aber bei Lügen und Verleumdung ziehen wir eine Grenze.“
Am Donnerstag letzter Woche fand vor einem Gericht in Utrecht die Anhörung statt. Unter großem öffentlichem Andrang legten beide Seiten ihre Positionen dar. Civitas Christiana wirft Rutgers vor, Grundschulkinder zu „sexualisieren“ – „bekanntmachen mit; sprechen über und bewusstmachen von Sex“, so formulierte es Gründer Hugo Bos. Man sieht die Vorwürfe gedeckt durch Religions- und Meinungsfreiheit. Vertreter*innen des Rutgers- Centrum beriefen sich auf wissenschaftliche Untersuchungen und Expertenstandpunkte und nannten ihre Programme „sachlich, informativ und edukativ“, was nicht bedeute, Kindern etwas aufzuzwingen.
Wie angespannt die Diskussion zum Thema ist, zeigte der Auftritt des rechten Aktivisten Max van den Berg, der während der Covidproteste bekannt wurde und sich auf seinem X- Profil als „Christ, Prediger, Verschwörungsanerkenner, Satan- und Elitenbekämpfer“ bezeichnet. „Pädos, Bah!“ rief er, bevor er sich auf der Zuschauertribüne niederließ. Vor einigen Jahren wurde van den Berg verurteilt, weil er mit einer Fackel vor dem Haus der damaligen Ministerin Sigrid Kaag auf diese wartete. Deren progressiv-liberale Partei D66 ist im rechtspopulistischen Spektrum der Niederlande besonders verhasst. Vor einem Jahr drang van den Berg mit anderen Aktivisten ins Büro des Rutgerszentrum ein, wo sie Anwesende mit dem Tod bedrohten.
Die Gerichtssitzung war damit ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Realität in den Niederlanden, in der Hass auf Gender-Themen und Symbolik bemerkenswerte Blüten treibt. 2022 etwa, kurz vor der WM in Qatar, wurde Orkun Kökçü, der türkischstämmige Kapitän des Fußballklubs Feyenoord Rotterdam, auf Social Media zum Helden, weil er sich geweigert hatte, eine Regenbogenarmbinde zu tragen. Nicht zuletzt feierten ihn zahlreiche alteingesessene Niederländer dafür, dass er „für seine Kultur“ einstehe. Die Alt-Right-affine Partei Forum voor Democratie (FvD) wiederum richtet sich inzwischen gezielt mit einer Antigenderagenda an konservative junge Muslime.
Fast könnte man anhand dieser Turbulenzen vergessen, dass es bei all dem eigentlich um sehr einfache Dinge geht: Aufklärung und Zugang zu Informationen. Dies betonte auch die bekannte belgische Sexologin Goedele Liekens während der Lentekriebels-Woche in der TV-Show „Goedemorgen Nederland“: „Ohne Aufklärung durch Schulen und Eltern wird das Internet dies erledigen. Und das ist wirklich nicht wünschenswert.“
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