Senatorin Kalaycis Corona-Forderungen: Das Vertrauen ist gestört
Politische Entscheidungen müssen gut erklärt sein, umso mehr bei Corona. Dilek Kalaycis Auftreten konterkariert das. Ein Wochenkommentar.
D ass man eine Mütze anzieht, wenn es regnet, oder einen Schirm aufspannt, ist klar. Auch, dass man einen Fahrradreifen aufpumpen oder flicken muss, wenn er platt ist. Politische Konsequenzen zu ziehen, ist hingegen oft nicht so leicht, und vor allem nicht in der Coronapandemie. Die Lockdowns bisher haben gezeigt: Maßnahmen funktionieren dann am besten, wenn man sie vernünftig erklärt. Wenn man, wie es immer so nett heißt, die Betroffenen mitnimmt, damit die auch verstehen, warum da was passiert.
Dazu müssen aber Dinge logisch sein, stringent, aufeinander aufbauend. Wenn nun ein Regierungsmitglied dieses erzählt und ein anderes nächste Woche jenes, obwohl sich die Umstände vor Ort nicht oder kaum geändert haben, so untergräbt das den Glauben an kluge Politik.
So geschehen ist das am vergangenen Dienstag auf der Pressekonferenz nach der Senatssitzung. Da wünschte sich SPD-Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci weitgreifendste Maßnahmen und sagte sogar: „Wir wollen mehr verbieten“. Diesen Satz allein könnten AfD und Impfgegner als lustvolles Rechte-Einschränken ausschlachten. Zuvor hatte Kalayci schon in einem Interview nach einer Bundesnotbremse gerufen und sich für Kontaktbeschränkungen auch für Geimpfte ausgesprochen.
Viel schlimmer aber ist, dass Kalaycis Worte den Auftritt ihres Staatssekretärs und Parteifreundes Martin Matz eine Woche zuvor im selben Pressekonferenzsaal konterkarierte, der dabei die neuen 2G plus-Vorgaben vorgestellt hatte. Weil parallel in Brandenburg das Kabinett über Wechselunterricht in Schulen und Kontaktbeschränkungen diskutierte, sah Matz sich mit der Journalistenfrage konfrontiert, warum das nicht auch in Berlin geplant sei. Und ob er, soweit das möglich ist, einen erneuten Lockdown ausschließen könne.
Ausschließen könne man nichts, antwortete Matz, „aber die Maßnahmen bieten die Chance, die Kurve [gemeint ist der Anstieg der Corona-Zahlen] abflachen zu können“. In Brandenburg sah er wegen der im Vergleich zu Berlin fast doppelt so hohen Infektionsrate eine ganz andere Situation.
Die Kurve flacht ab
Eine Woche später war die Kurve abgeflacht, der Abstand zu Brandenburg weiter groß. Der Senat hätte sich freuen und in seiner Politik bestätigt sehen können – zu Recht. Stattdessen forderte Kalayci mehr Einschränkungen und verwies auf die in Südafrika grassierende neue Coronavariante Omikron und die Empfehlungen von Wissenschaftlern, die aber in der Regel schon immer nach gravierenderen Maßnahmen gerufen hatten.
Nun ist es so, dass Staatssekretär Matz bislang weder als Beschöniger der Coronalage aufgefallen wäre noch im Verdacht steht, vom Thema Gesundheit keine Ahnung zu haben. Ganz im Gegenteil: Kaum ein Staatssekretär ist so sehr in seinem Fachgebiet verwurzelt wie Matz. Der war schon im Abgeordnetenhaus Gesundheitsfachmann, danach in Spandau Stadtrat für dieses Thema und hatte schließlich auch als Vorstand bei der Diakonie damit zu tun, bevor er 2018 Kalaycis Vize wurde. Man könnte sogar sagen: Er hat im Zweifelsfall mehr Ahnung als Kalayci – jene Frau, die zu Jahresbeginn im Abgeordnetenhaus irrigerweise eine lokale Impfstoff-Produktion durch das Unternehmen Berlin Chemie ankündigte.
Was soll vom oben beschriebenen Widerspruch zweier Regierungsmitglieder gleicher Parteizugehörigkeit jemand denken, der zwar bislang alle Coronamaßnahmen befolgt hat, aber mehr und mehr auf der Kippe ist? So wie ein skeptischer Katholik, für den es noch ein einziges reaktionäres Kardinalswort braucht, um aus der Kirche auszutreten.
Nicht nachvollziehbare Wenden, Ankündigungen und Noch-eins-Drauflegen untergraben das Vertrauen in Politik. Nicht nur bei Corona, aber hier besonders. Oft genug hat Regierungschef Michael Müller (SPD) gesagt: Der Senat, die Bezirke, die Polizei, sie alle könnten nicht alles kontrollieren. Es liege vielmehr an jedem und jeder selbst, sich solidarisch zu zeigen und die Regeln einzuhalten. Das geht aber nur, wenn Entscheidungen plausibel sind. Für Kalaycis „Wir wollen mehr verbieten“ gilt das nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge