Seenotretter über Kriminalisierung: „Solange ich noch stehen kann“
Stefan Schmidt rettete als Kapitän der „Cap Anamur“ Geflüchteten das Leben. Heute ist er Flüchtlingsbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein.
taz am wochenende: Herr Schmidt, was treibt Sie an, sich auch mit 81 Jahren noch ehrenamtlich für Geflüchtete einzusetzen?
Stefan Schmidt: Ich habe das Gefühl, dass man die Welt noch nicht alleine lassen kann. Wir müssen alle noch helfen, sie ein bisschen besser zu machen. Und ich glaube auch, dass ich in diesen elf Jahren, als Flüchtlingsbeauftragter von Schleswig-Holstein, so manchen überzeugt habe, dass man sich auch einsetzen muss. Man soll nicht nur der sein, der zwar gut denkt, aber nichts sagt. Man muss auch mal laut sein.
Ihnen wurde auch angeboten, Sie für Ihre Arbeit als Flüchtlingsbeauftragter zu entlohnen. Aber das haben Sie abgelehnt.
Ich wollte nicht, dass die Leute denken, ich mache das des Geldes wegen. Ich mache das, weil es meine Meinung ist, und nicht um mich über einen Umweg an dem Schicksal armer Menschen zu bereichern.
Sie sind über 20 Jahre auf Transportschiffen zur See gefahren. Wie kam es dazu, dass Sie schließlich Kapitän des Hilfsgüterschiffs „Cap Anamur“ wurden?
Ich war zu der Zeit Dozent an der Seemannsschule in Lübeck, weil ich wegen meiner Kinder nicht mehr ständig unterwegs sein wollte. Ich hatte mich mit Elias Bierdel, der damals Leiter der Hilfsorganisation Cap Anamur war, wegen einer anderen Geschichte getroffen. Wir haben uns dann hier in Lübeck in ein Lokal gesetzt und einfach geschnackt. Er hat mir erzählt, dass er auf der Suche nach einem geeigneten Schiff ist, um Hilfsgüter zu transportieren. Und ich habe ihm eigentlich nur geholfen, so ein Schiff zu finden. Als wir das Schiff dann gekauft haben, sollte ich es noch umbauen. Elias hatte eigentlich einen anderen Kapitän.
Schließlich fuhren Sie dann doch mit.
Ja, der Kapitän wurde dann zwei Wochen vor der Fahrt krank. Und dann habe ich mich gemeldet und gefragt: „Darf ich?“ Und ich durfte. Ich habe dann eine Besatzung zusammengestellt, in der möglichst viele Sprachen gesprochen wurden. Denn wenn man überall, wo man hinkommt, mit den Leuten sprechen kann, dann ist das schon die halbe Miete. Und dann ging es auf die erste Fahrt.
Wohin ging es?
Wir hatten Krankenhausmaterial und Autos geladen, für Angola, Liberia und Sierra Leone. In Liberia gab es ein Krankenhaus, das mal zu einer deutschen Mine gehörte. Die Mine war natürlich nicht mehr in Betrieb, weil da schon zehn Jahre Bürgerkrieg herrschte. Aber das Krankenhaus hatte sich noch gehalten. Da haben wir dann Röntgengeräte und Betten hingebracht und auch eine Nacht dort geschlafen. Einen Tag nachdem wir wieder weg waren wurde das Krankenhaus von Kindersoldaten überfallen, die dann auch um sich geschossen haben. Zum Glück wurde niemand getroffen, aber wir haben uns natürlich gefragt, was passiert wäre, wenn wir noch dort gewesen wären.
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Es blieb nicht das einzige schicksalhafte Ereignis mit der „Cap Anamur“. Schließlich retteten Sie im Jahr 2004 noch 37 Geflüchtete aus dem Mittelmeer.
Genau, wir lagen im Hafen von Malta, um das Schiff reparieren zu lassen. Dann sind wir in Richtung Nordafrika gefahren, um zu testen, ob alles richtig läuft. Eigentlich wollten wir wieder nach Westafrika fahren. Aber es kam anders. Es war Mittag, als der zweite Offizier zu mir kam und sagte: „Du, da ist so ein Boot.“
Haben Sie sofort gewusst, in welcher Situation sich das Boot befindet?
Nein. Es sah so aus, als würden die auf eine Ölplattform zufahren. Deswegen dachten wir, das sind bestimmt Arbeiter. Aber dann fingen sie an, mit einem roten T-Shirt zu winken. Wir haben einen an Bord geholt, der gut Englisch sprach. Er meinte, sie seien vom Strand von Sudan aus aufgebrochen, was natürlich Quatsch war. Der Sudan liegt ja am anderen Ende vom Suezkanal. Aber dass sie Flüchtlinge waren, das war uns klar, deswegen haben wir sie an Bord geholt und das Zwischendeck für sie eingerichtet. Die wussten dann natürlich nicht, was mit ihnen jetzt passiert. Ich bin dann auch jeden Abend runter und habe mit denen Gottesdienst gemacht, obwohl ich kein Pastor und auch eigentlich kein besonders gläubiger Mensch bin. Aber das hat sie ein bisschen beruhigt. Wir haben auch Tischtennis mit ihnen gespielt. So sind wir uns dann alle ein bisschen näher gekommen an Bord.
Der Mensch Stefan Schmidt, 81, fuhr seit seinem 17. Lebensjahr zur See, zunächst auf Transportschiffen. Als absehbar war, dass er und seine Frau Kinder bekommen würden, wurde er Dozent an der Seemannsschule in Lübeck. Zwischendurch war er Direktor einer Seemannsschule in Kiribati, einer Insel in der Südsee. Nach seiner Rückkehr wurde er Generalkonsul von Tuvalu, ebenfalls in der Südsee gelegen. 2004 übernahm er als Kapitän die „Cap Anamur“.
Das Engagement Seit 2011 ist Schmidt Beauftragter für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen in Schleswig-Holstein. Schmidt berät Betroffene und Entscheidungsträger, hält aber auch Vorträge vor jungen Menschen, um Sie für das Thema Flucht zu sensibilisieren. Schmidt ist außerdem Mitbegründer des Vereins Borderline Europe – Menschenrechte ohne Grenzen, der hauptsächlich über die Lage an den europäischen Außengrenzen informiert und sich für legale Fluchtrouten einsetzt.
Die Ehrung Am 13. September 2022 erhielt Schmidt für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz von Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther. In der Laudatio hieß es, Schmidt setze „sich mit großem Engagement und Leidenschaft für das Menschenrecht auf Schutz vor Verfolgung ein“. (br)
Wie ging es dann weiter?
Wir wollten sie eigentlich nach Lampedusa bringen, aber für den Hafen war unser Schiff zu groß. Elias hat in Köln versucht, uns einen Hafen zu organisieren. Und dann wurde uns gesagt, wir sollen nach Agrigento auf Sizilien fahren. Wir hatten gute Kontakte zu Ärzte ohne Grenzen, die uns auch gesagt haben, dass wir da hinfahren können. Aber wir kriegten dann die Nachricht, dass wir nicht einlaufen dürfen. Und nach einer Woche schrieb uns das Innenministerium, dass sie jetzt den Flüchtlingen den Status als aus Seenot Gerettete aberkannt haben, weil sie schon zu lange an Bord waren. Aber die waren nur so lange an Bord, weil wir nicht einlaufen durften. Alles total bescheuert.
Wie lange lagen Sie vor dem Hafen?
Vierzehn Tage. Wir haben natürlich die Maschine ausgemacht und sind immer mit der Strömung in eine Richtung getrieben. Und dann sind wir morgens wieder vor den Hafen gefahren, um auch zu zeigen, wir sind hier. Im Radio hieß es nämlich immer, wir seien nach Frankreich abgehauen oder irgend so ein Quatsch. Deswegen wollten wir, dass man uns sieht.
Wie haben Sie sich in der Situation gefühlt? Es waren ja auch immer bewaffnete Boote bei Ihnen, um Sie zu bewachen.
Da wird man langsam nervös. Die Schnellboote vom Zoll haben sogar Scheinangriffe auf uns gefahren und uns bedroht. Aber die Männer von der Küstenwache, das waren alles ehemalige Seeleute, die haben uns sogar geholfen, Proviant an Bord zu holen. Elias Bierdel ist dann auch an Bord gekommen, mit Kamerateams von ZDF und Arte. Und ein Oppositionspolitiker war auch dabei. Der hat dann das Filmmaterial an sich genommen, weil er nicht kontrolliert werden durfte von der Polizei. Die hätten das Material nämlich sonst beschlagnahmt.
Irgendwann haben Sie entschieden, auch ohne Erlaubnis in den Hafen einzufahren, auch wenn Sie dadurch Konsequenzen befürchten mussten. Warum haben Sie es trotzdem gemacht?
Die Situation wurde gefährlich an Bord, weil die Geretteten auch immer nervöser wurden. Wir hatten Angst, die würden vielleicht auf die Idee kommen, das Schiff zu übernehmen. Deswegen habe ich den Behörden ein Telegramm geschickt und gesagt: „Ich laufe jetzt ein und ich will euer Okay. Wenn ich das nicht kriege, mache ich daraus einen internationalen Seenotfall.“ Wenn an Bord Menschenleben gefährdet sind, darf man in jeden Hafen einlaufen, das ist internationales Recht. Darauf kam keine Antwort. Dann sind wir auf den Hafen zugelaufen und bekamen die Nachricht, wir sollen vor Anker gehen. Das haben wir dann auch gemacht. Am nächsten Morgen kam der Lotse und hat uns reingebracht. Da haben wir alle geweint. Wir dachten, dass es jetzt endlich vorbei ist.
Aber es kam anders. Sie kamen in Polizeigewahrsam und wurden verhört. Wie lief das ab?
Erst mal wurden die Flüchtlinge alle direkt in ein Abschiebelager gebracht. Später hieß es, dass sie alle über ihre Herkunft gelogen hätten. Aber es waren vorher zwei Mönche an Bord gekommen, die früher als Missionare in Afrika gearbeitet hatten. Und die haben gesagt, dass etliche von den Männern garantiert aus dem Sudan kommen, weil die eine Sprache gesprochen haben, die nur da gesprochen wird, und kleine Dörfer dort kannten. Das war den Behörden aber egal. Elias und mir wurde gesagt, wir sollen doch auf eine Tasse Kaffee ins Polizeibüro kommen. Das haben wir dann auch gemacht. Aber wir wurden dann direkt einzeln verhört. Und alles wurde mitgeschrieben. Das sollten wir dann auch direkt unterschreiben. Da standen dann aber Sachen drin, die wir gar nicht gesagt haben. Deswegen haben Elias und ich das auch nicht unterschrieben.
Was stand denn drin?
Dass wir in den Hafen eingelaufen seien, weil es kein Essen mehr an Bord gab. Das stimmte natürlich nicht. Das wurde reingeschrieben, damit man hinterher sagen konnte, wir hätten gelogen. Dass wir nicht unterschrieben haben, war dann auch egal, denn der Polizeichef hat unsere Unterschriften einfach gefälscht.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als es hieß, Sie seien verhaftet?
Das war total unwirklich. Am Anfang wurde uns mit zwölf Jahren Gefängnis gedroht. Und der Hafenmeister hat behauptet, wir seien zu schnell eingefahren und hätten die Hafenanlage gefährdet. Das hätte auch noch mal zehn Jahre Haft gegeben. Aber er musste das zurückziehen, weil alle seine Untergebenen ausgesagt haben, dass wir sehr langsam und vorsichtig gefahren sind. Also Zivilcourage war auf jeden Fall da. Auch die Polizisten, die uns zum Gefängnis gefahren haben, haben sich bei uns entschuldigt und sind sogar noch mit uns zu einer Eisdiele gefahren.
Wie lange waren Sie dann im Gefängnis?
Nach einer Woche hat ein Richter entschieden, dass wir ausgewiesen werden und den Süden Italiens nicht mehr betreten dürfen. Und dann sind wir am selben Abend noch raus. Als sich die Tür geöffnet hat von dem Polizeiauto, das uns aus dem Gefängnis bringen sollte, stand plötzlich mein mittlerer Sohn da. So ein besorgtes Gesicht habe ich noch nie gesehen. Er hatte alles stehen und liegen gelassen, als er gehört hat, dass ich im Gefängnis saß, und ist sofort runtergefahren. Er wollte einfach helfen. So sollte es sein. Da kommen mir schon wieder die Tränen.
Die Geschichte war ja noch nicht vorbei. War Ihnen schon bei der Ausreise klar, dass Ihnen der Prozess gemacht werden soll?
Nein, da wussten wir das noch nicht. Die Staatsanwaltschaft hat zwei Jahre lang Zeugen gegen uns gesammelt und dann haben wir erfahren, dass es einen großen Prozess gegen uns geben wird. Von den 82 Zeugen, die der Staatsanwalt gefunden hatte, haben aber erst mal 50 für uns ausgesagt. Dann kam endlich einer, der meinte, wir hätten uns geweigert, unsere Position zu nennen, während wir draußen vorm Hafen lagen. Das wäre ja auch sehr verdächtig, wenn man das verweigern würde. Aber unser Anwalt hatte eine Niederschrift von dem Telefongespräch. Der ist dann lachend zur Richterin gegangen und hat gezeigt, dass ich dreimal meine Position genannt habe.
Drei Jahre später, also 2009, sind Sie schließlich freigesprochen worden. Haben Sie das erwartet?
Nein, wir wussten nicht, wie es ausgeht. Ich bin auch mit einem kleinen Koffer zur Urteilsverkündung geflogen, falls ich ins Gefängnis muss. Die Richterin kam nur kurz in den Saal rein und hat einen kleinen Zettel vorgelesen und ist wieder gegangen. Und unsere Dolmetscherin hat vor Aufregung vergessen zu übersetzen. Aber wir wussten, wir haben gewonnen, weil hinter uns alle anfingen zu jubeln. Ich habe mich natürlich unglaublich gefreut und das habe ich dann auch der Presse hinterher gesagt. Aber Elias hat gleich losgeschimpft: „Da draußen ertrinken die Menschen immer noch!“ Das ist natürlich richtig, aber ich war in dem Moment einfach nur erleichtert.
Für Sie ging die ganze Sache noch glimpflich aus. Aber bis auf zwei wurden alle, die Sie gerettet haben, wieder abgeschoben.
Das ist für die natürlich ganz dramatisch. Das ganze Dorf sammelt, damit sie überhaupt an die Küste kommen und dann auch die Überfahrt bezahlen können. Die sollen dann natürlich auch ein Teil von dem, was sie hier verdienen, zurückschicken. Das Geld, was insgesamt zurückgeschickt wird, war zeitweilig doppelt so viel wie die gesamte Entwicklungshilfe. Und wenn es dann nicht geklappt hat, dann ist das Geld natürlich weg und sie sind die Schande des Dorfes. Und mir ist auch wichtig zu sagen: Niemand flieht, weil er Spaß daran hat, sondern weil er muss.
Trotz allem setzen Sie sich mit Ihrem Verein Borderline Europe und als Flüchtlingsbeauftragter von Schleswig-Holstein weiter für Geflüchtete ein. Wie genau sieht Ihre Arbeit aus?
Ich halte viele Vorträge an Schulen, oder vor FSJlern, um aufzuklären, was Flucht überhaupt ist. Bei jungen Menschen ist da auch noch viel möglich. Und dann leiten wir Anfragen an NGOs und Diakonien weiter. Aber wir kümmern uns auch um Einzelfälle, obwohl wir das eigentlich nicht dürfen, und versuchen, jedem so gut es geht zu helfen, dass er bleiben darf. Das klappt natürlich nicht immer. Aber in Schleswig-Holstein sehe ich eine positive Entwicklung, auch weil mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in der Politik vertreten sind. Aminata Touré hat mal in meinem Büro ein Praktikum gemacht und danach gemeint, dass sie hier so richtig Interesse an Politik entwickelt hat. Und heute ist sie Ministerin, also das ist schon toll.
Sie sind noch ein Jahr als Flüchtlingsbeauftragter gewählt und wollen danach nicht mehr antreten. Ist es dann vorbei mit Ihrem Engagement?
Ich muss mich natürlich ein bisschen selbst bremsen. Wenn ich als Beauftragter aufhöre, bin ich fast 82. Ich hatte noch Anfang des Jahres eine Operation wegen Krebs. Also ich muss schon aufpassen, dass es nicht auf einmal vorbei ist. Aber prinzipiell möchte ich weitermachen, solange ich noch stehen kann.
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