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Schwarz-Grün in Nordrhein-WestfalenZu Tränen gerührt

Trotz Kritik von der Basis stimmen die NRW-Grüne für ein Regierungsbündnis mit der CDU. Grenzenlos ist die Euphorie aber auch auf dem Parteitag nicht.

Erhielt standing ovations – designierte Super-Ministerin Mona Neubaur Foto: Fabian Strauch/dpa

Bielefeld taz | Massive Kritik empfängt die Grünen, die in der Bielefelder Stadthalle das erste schwarz-grüne Regierungsbündnis in Nordrhein-Westfalen durchwinken sollen. Es demonstrieren nicht nur die Beschäftigten der landeseigenen Uni-Kliniken, die seit Wochen für Arbeitsbedingungen streiken, die nicht krank machen. Mit der Klimabewegung steht auch die Kernklientel der Grünen vor der Bielefelder Stadthalle. „1,5-Grad-Ziel einhalten“ und „Was ist an Grün noch grün?“ steht auf den Transparenten der Aktivist:innen, die einen sofortigen Stopp der Braunkohlebagger im Rheinischen Revier fordern.

Der Koalitionsvertrag müsse „komplett neu verhandelt“ werden, findet etwa Thomas Müller-Schwefe, pensionierter Hausarzt und Umweltaktivist. Viel zu unverbindlich seien die Kompromisse, sagt er. „Die CDU zieht Euch über den Tisch“, warnt der 67-Jahre alte Waldschützer in einem Gespräch den grünen Kommunalpolitiker Felix Lüttke (35). „Eure Generation wird noch erleben, wie NRW zur Steppe wird.“

Tatsächlich fehlt in der selbstbewusst als „Zukunftsvertrag“ vermarkteten schwarz-grünen Einigung nicht nur jede Zeitangabe, bis wann das größte Bundesland mit seinen 18 Millionen Menschen wie versprochen „zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas“ werden soll. Auch bei der Reduzierung des Flächenverbrauchs fehlt ein Zieldatum – dabei werden in NRW jeden Tag 18 Fußballfelder zubetoniert. Und der Neubau von Landesstraßen soll zwar 2023 überprüft werden. Bis dahin aber sollen „die laufenden Projekte weiterbearbeitet“ werden.

Der eigene Parteinachwuchs lehnt den Koalitionsvertrag entsprechend ab. Die Grüne Jugend kritisiert nicht nur, dass das Dorf Lützerath den riesigen Baggern des Braunkohlekonzerns RWE geopfert werden könnte. „Das ganze Kapitel Arbeit und Soziales ist maximal schwach“, sagt Landessprecher Rênas Sahin. Nicht nur eine Ausbildungsgarantie und Mieterschutz fehlten, ärgert sich der 20-Jährige. „Was passiert mit den Industriearbeiter:innen?“, fragt Sahin auch – schließlich bedroht die ökologische Transformation deren Jobs.

In der Halle aber wird am Samstag schnell deutlich: Die Bedenken der Basis zählen wenig. Einmal mehr feiern die Grünen die starken 18,2 Prozent und damit die Regierungsbeteiligung, die sie bei der Landtagswahl am 15. Mai eingefahren haben. Die scheidende Landeschefin Mona Neubaur – designierte Super-Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klima, Energie – rühren die Delegierten mit Standing Ovations sogar zu Tränen.

Union ohne Bedenken

Als die 44-Jährige kurz darauf in ihrer Rede noch mal für Schwarz-Grün wirbt, haben die Christdemokraten den Koalitionsvertrag bereits abgenickt. Beim gleichzeitig laufenden CDU-Landesparteitag stimmen nur 4 von rund 580 Delegierten gegen das Bündnis mit den Grünen. Neubaurs neuer Duzfreund, CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst, der am Dienstag mit den Stimmen der Grünen im Amt bestätigt werden soll, hat also geliefert.

Jetzt ist Neubaur dran: Um einen „Vertrauensvorschuss“ bittet die designierte stellvertretende Ministerpräsidentin. „In Regierungsverantwortung geht die Arbeit erst richtig los“, sagt sie. Natürlich könne diskutiert werden, ob im Koalitionsvertrag „genug von uns drin ist“. Draußen aber herrsche aber mit dem Ukraine-Krieg eine „knallharte Realität“. Schon wegen dessen Unwägbarkeiten habe die Einigung mit der CDU offen formuliert werden müssen, findet Neubaur – und verspricht den Ausbau der Erneuerbaren genauso wie mehr Chancengerechtigkeit und besseren Minderheitenschutz.

Die Spitzen-Grüne weiß, dass ihr nicht wenige Delegierte vorwerfen, trotz der starken 18,2 Prozent zu schwach verhandelt zu haben. Umstritten ist besonders, dass sie der CDU den Bereich Landwirtschaft überlassen hat. Um das bisherige Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft und Naturschutz sei NRW „beneidet“ worden, klagt etwa die Sprecherin der grünen Landesarbeitsgemeinschaft Ökologie, Diana Hein. Jetzt werde die „Brücke zwischen Naturschutz und Landwirtschaft“ abgebrochen: „Schwarz-Grün bringt das jetzt zu Ende, indem das Ministerium zerschlagen wird.“

Ärger über Personalpolitik

Der Koalitionsvertrag sei „säuerlicher Wein“, findet auch der Agrarexperte Norwich Rüße. Der 56-Jährige gehört zu den langjährigen Fachpolitikern der Landtagsfraktion, die von Neubaur enttäuscht wurden: Von den vier Ministerien, die die Grünen wie schon nach dem 12-Prozent-Ergebnis von 2010 besetzen dürfen, geht nur eines an eine Parlamentarierin. Die bisherige Co-Fraktionschefin Josefine Paul wird Familien- und Integrationsministerin.

Neuer Justizminister soll dagegen der weithin unbekannte Benjamin Limbach werden. Der Sohn der einstigen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, war erst 2018 von der SPD zu den Grünen gewechselt. Für Umwelt, Naturschutz und Verkehr holt Neubaur den aus Düren bei Aachen stammenden Oliver Krischer aus Berlin zurück nach Düsseldorf: Noch ist Krischer Staatssekretär in Robert Habecks Wirtschaftsministerium.

Enttäuscht ist deshalb auch der erfahrene verkehrspolitische Sprecher der Landtagsfraktion, Arndt Klocke. Die grüne Spitze um Neubaur sei ein ausgrenzender „Closed Shop“, ärgert sich der einstige Partei- und Fraktionschef, der seinen Kölner Wahlkreis mit satten 41,6 Prozent gewonnen hat. Praktiziert werde „eine Methode von Führung, die nicht zur offenen Kultur der Grünen passt“.

Massiv Werbung für Schwarz-grün macht in Bielefeld dagegen Reiner Priggen, wie Klocke ehemaliger Partei- und Fraktionschef. Schon 30 Prozent Ablehnung könnten die neuen grünen Mi­nis­te­r:in­nen massiv schwächen, fürchten Realos wie er. Wer dem Koalitionsvertrag nicht zustimmen könne, solle während der Abstimmung doch einfach kurz vor die Tür gehen, rät der schwarz-grüne Vordenker Priggen den Delegierten.

Und tatsächlich: Brüskieren wollen die NRW-Grünen Mona Neubaur, ihre seit der Landtagswahl unumstrittene Nummer 1, nicht. Mit 85 Prozent votieren 216 von 254 Delegierten für das Bündnis mit der CDU. „Jetzt dürft ihr noch Mal applaudieren“, ruft Neubaur danach am Ende ihrer Dankesrede. Standing Ovations folgen.

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14 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „Die CDU zieht Euch über den Tisch“, warnt der 67-Jahre alte Waldschützer in einem Gespräch den grünen Kommunalpolitiker Felix Lüttke (35). „Eure Generation wird noch erleben, wie NRW zur Steppe wird.“ Steppe. Wüst und leer? Wüst und wer? Nun denn…



    „Where seldom is heard, a discouraging word, And the skies are not cloudy all day.”



    www.youtube.com/watch?v=9482-S2PYX4

  • Die Grünen verraten ihre Werte jede Woche ein Stück mehr, so scheint mir.



    Die Macht ist halt zu verlockend. Nicht nur bei uns ist das so.

  • Die naturschutzinteressierten Bewohner von NRW können einen schon jetzt leid tun - kommt doch nun mit dem neuen zuständigen Minister Oliver Krischer noch mehr stürmischer AGORA Wind auf die ohnhin schon schwächelnde Naturschutzpolitik zu - Flächenverbrauch durch PV-FFA und Windkraft im Wald werden wohl an forderster stelle seiner Agenda stehen. Mich würds nicht wundern, wenn Michael Schäfer durch das unsichtbare Gesetz der Kliquenwirtschaft zu einen entscheidenden Job in diesem Ministerium finden wird.



    taz.de/Klimachef-d...irft-hin/!5852509/

  • Liebe NRW-Grüne,



    mit vollem Elan hat euch die CDU über den Koalitionstisch gezogen und eure Chefin schwurbelt sich den Koaltionsvertrag schön.

    Ein ziemlicher Absturz zwischen den alten "linken" Grünen und den neuen "FDP" Grünen der Neuzeit.

    Traurig, dass ihr euch für den Weg des Mehrheitsbeschaffers der Marke FDP entschieden habt. Wählbarer werdet ihr dadurch nicht.

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)
    • @95820 (Profil gelöscht):

      Wer wird denn so nachtragend sein?

      • 9G
        95820 (Profil gelöscht)
        @Wurstfinger Joe:

        Einer muss es ja machen. Ralph Bollmann ist ja nicht mehr bei der taz.



        Und btw.: Mona Neubaur – designierte Super-Ministerin für



        Wirtschaft, Industrie,



        Klima und Energie -



        fehlt nur noch Philosophie.



        de.wikipedia.org/wiki/Mona_Neubaur

  • Das kennen wir ja schon: Die Grünen übernehmen die ökologischen Konzepte der CDU und die CDU bringt dafür den Grünen die Freuden des Militärs bei. Kreuzen Sie hier auf dem Wahlzett^Bestellschein ihre Auswahl an, geliefert wird sofort, die Rechnung lassen Sie dann von ihren Enkeln begleichen.

    Umweltschutz heißt dann, daß die RWE nach tiefgründigen Beratungen mit Unterstützung der Regierung auf Initiative von Grüns einen modifizierten Reisebus als solarbetriebenes "Infozentrum" mit viel Grün und Hightechkram zu den Schulen schickt, um die Kids über die Gefahren von zuviel Umweltschu^W^Wlinkem Gedankengut aufzuklären.



    Zum Ausgleich für soviel ökologisches Engagement stimmen Grüns dann der Aufrüstung zweck Schaffung von Arbeitsplätzen zu. Das gefällt sogar der SPD.

    • @Wolfgang Nowak:

      nur mal so: nimmt man die entschädigungslose Vertreibung der einheimischen Indigenen von Kolumbiens Steinkohle-Tagebau mit "ins Boot" (davon geht ein beträchtlicher Teil nach Deutschland) ... und erkennt man an, dass inklusive (von Putin verschwiegener) Methan-Vorettenemissionen deutsche Gaskraftwerke nicht umweltfreundlicher als moderne (Stein)Kohleblocks mit >45% Wirkungsgrad sind (sagt auch Kempfert in der taz taz.de/Energieexpe...Stream-2/!5747022/ ) ...muss man sagen, dass die Anti-RWE-Hambach-Aktivisten auf dem anderen Auge höchst uninformiert und blind sind. (meine ich als Old ChemieIng & Greta-FfF-Aktivist)

      • @Martin L.:

        Wo in den von Ihnen verlinkten Interview sagt Frau Kemfert bitteschön das Gaskraftwerke betrieben mit Pipelinegas nicht umweltfreundlicher als Steinkohlekraftwerke sind? Ich kann dies aus Ihren Aussagen keineswegs herauslesen. Das einzige was sie hierzu sagt ist das Strom erzeugt mit Gas aus Russland aufgrund der höheren Methanverluste im Vergleich zu Gas aus Norwegen KAUM besser fürs Klima ist als Strom aus Steinkohlekraftwerken. Ob diese Einschätzung Gerechtfertigt ist ist zumindest umstritten.



        Will man allerdings die Umweltfreundlichkeit beurteilen, sollten nicht allein die Klimawirksamen Gase CO2 und Methan, sondern auch die emitierten Luftschadstoffe NOx, SO2 und Quecksilber sowie die zurückbleibende Asche/Schlacke als Sondermüll mit in die Bewertung einbezogen werden. Siehe hierzu beispielsweise diesen Kraftwerksvergleich, der neben Braunkohle auch die Schadstoffe der Steinkohle und Erdgasverstromung darstellt: www.bund-nrw.de/th...aunkohlekraftwerk/

  • Sehr schön, die Grünen gehen in NRW nach Rechts.

    Das ist auch eine Wirkung einer nicht mehr im Landtag vertretenen Linken und einer geschwächten SPD. Dieses Bündnis taugt nicht wirklich, aber es wird medial in den nächsten Jahren erstaunlich gut darstehen. Das liegt aber nicht nur an regierungstreuen Medien, sondern auch an der Ratlosigkeit, die das Wahlergebnis erzeugt hat.

    Rot-Grün war mal in NRW eine große Veränderung, ein Wagnis, eine Art Neuanfang, die SPD stand klassischen Industrien und strammen DGB-Mitgliedern näher als neuen, alternativen Milieus, inzwischen paktieren die Grünen direkt mit den Managern und oberen Schichten des bevölkerungsreichsten Bundeslandes. Die Arbeitermilieus haben sich abgeschwächt, sind aufgelöst, dort leben heute Migranten, viele ohne Wahlrecht oder irgendeine gängie politsche Verankerung, die Milieus der CDU und der Grünen sind da noch kompakt und sie könnten auch einer Regierung Stabilität geben.

    Nur wirklich ein links-lierales, ökologisches Projekt kann ich mir gar nicht vorstellen. Dazu beißen sich die Interessen am Ende zu stark. Heikel wird es dann im Bereich von Wirtschaft, Handel, Bildung und Innenressort - hier könnten die Grünen was abbekommen. Hier muss die CDU konservativ sein. Mal sehen, wie es praktisch wird.

    Außerdem bilden sie auch noch eine Art "Anit-Regierung" gegenüber Berlin: Sie zeigen, was in Zukunft bundesweit passieren könnte.

    Mitte-Rechts-Grün könnte für die CDU/CSU eine attraktive Idee werden, um an der Macht zu bleiben oder dorthin zu kommen. Dazu kommt für die Grünen die Tatsache, dass nach ein paar Jahren eine Regierung mit der SPD auch gehen würde, sie gewinnen strategisch also das dazu, was sie inhaltlich zu verlieren drohen. Und bislang sind die Grünen durch Wahlen nicht recht geschwächt worden, da geht es ihnen besser als CDU/CSU oder SPD. Nur der Glanz, die Dynamik, der neue Schwung, den verlieren die Grünen so Stück für Stück.



    Aber darum geht es wohl auch nicht mehr ...

    • 9G
      95820 (Profil gelöscht)
      @Andreas_2020:

      BaWü ist das Muster (ohne Wert). Wer den Kretschmann nicht ehrt, ist die Mona nicht wert.

  • Hm. Liebe Grüne: angesichts der ernsten Lage dürftet Ihr schon ein bisschen mehr auf die Tube drücken.

    • @tomás zerolo:

      Mit "angesichts der ernsten Lage" meinen Sie wahrscheinlich Klimaschutz oder Umweltschutz allgemein und damit leider offenbar etwas ganz anderes als die "lieben Grünen"

      Also vor Ort das hier: "Reiner Priggen, [...] Schon 30 Prozent Ablehnung könnten die neuen grünen Mi­nis­te­r:in­nen massiv schwächen, fürchten Realos wie er. Wer dem Koalitionsvertrag nicht zustimmen könne, solle während der Abstimmung doch einfach kurz vor die Tür gehen, rät der schwarz-grüne Vordenker Priggen den Delegierten" (ob er das Wählern auch empfehlen würde? Also gar nicht erst zur Urne? )

      Aber so richtig ernst ist nur noch eins:

      》Draußen aber herrsche aber mit dem Ukraine-Krieg eine „knallharte Realität“. Schon wegen dessen Unwägbarkeiten habe die Einigung mit der CDU offen formuliert werden müssen, findet Neubaur – und verspricht", na ja, was sie halt so verspricht《

      Fakt ist: Nach dem BMU wird jetzt wieder ein Umweltministerium demoliert m.tagesspiegel.de/...rium/27863844.html , diesmal auf Landesebene.

      Sowas taz.de/Harald-Welz...rbrechen/!5861628/ hier hingegen ist nicht ernst, sondern wahrscheinlich 'vulgär' (Kombi Umwelt/Pazifismus)

      Was das mit NRW zu tun hat? Die "knallharte Realität" ist, dass Baerbock und Hofreiter zusammen mit Strack-Zimmermann den Kanzler mit ihren Forderungen nach immer mehr Krieg vor sich hertreiben, und wenn die Option maximale Eskalation auf dem Tisch bleiben soll, darf wan es sich mit der CDU nicht verscherzen.

      Zur Erinnerung: Das Wahlprogramm mit "keine Waffen in Kriegsgebiete" wurde in Wahlkampf ausdrücklich in Hinblick auf die Ukraine bestätigt - Nerven hat sie schon, die Neubaur, wenn sie jetzt den Krieg instrumentalisiert, um um einen „Vertrauensvorschuss“ zu bitten.

      Was die Delegierten haben, dass sie sich „eine Methode von Führung, die nicht zur offenen Kultur der Grünen passt“ (Klocke) gefallen lassen, kann wan nur vermuten.