Schutz der biologischen Vielfalt: „Noch dramatischer als beim Klimawandel“
Der Umweltverband BUND will Deutschland mit einer Verfassungsklage zum Schutz der Biodiversität zwingen. Viele Arten seien bereits ausgestorben.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) klagt beim Bundesverfassungsgericht gegen das mangelnde Engagement Deutschlands beim Schutz der biologischen Vielfalt. Dies sei „weltweit die erste Klage bei einem obersten Gericht auf bessere Naturschutzgesetzgebung“, so der BUND.
Das Bundesverfassungsgericht soll den Gesetzgeber – also Bundestag und Bundesrat – verpflichten, ein „umfassendes Schutzkonzept zum Erhalt der Biodiversität“ zu beschließen. Und natürlich will die Umweltorganisation mit der Klage auch Öffentlichkeit für den Schutz der biologischen Vielfalt schaffen, der in den Medien meist im Schatten von Klimawandel und Klimaschutz steht.
In der 144-seitigen Klageschrift, die der taz vorliegt, macht der BUND deutlich, dass die Bedrohung der Biodiversität „weiter fortgeschritten ist als beim Klimawandel“, daher sei auch die „Dringlichkeit raschen gesetzgeberischen Handelns“ höher. Die biologische Vielfalt erbringe eine Vielzahl wesentlicher Leistungen für Lebewesen, etwa die Gewährleistung der Widerstandsfähigkeit und Stabilität von Ökosystemen, die Regulierung des Klimas, die Bestäubung in der Nahrungsmittelproduktion, die Reinhaltung von Luft und Wasser, die Ermöglichung der Bodenbildung und den Schutz vor Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erosion.
Neue Infektionskrankheiten durch Artensterben
Der Rückgang der Biodiversität sei bereits dramatisch. So habe sich in Europa seit den 1970er Jahren die Fläche der Feuchtgebiete um 50 Prozent verringert. In den vergangenen drei Jahrzehnten sei in deutschen Schutzgebieten die Zahl der fliegenden Insekten um 75 Prozent zurückgegangen. Als Hauptursachen werden Landwirtschaft, Klimawandel und invasive Arten genannt.
Die Umweltschützer argumentieren: Langfristig sei durch das Artensterben die Ernährungssicherheit gefährdet, und neue Infektionskrankheiten könnten auftauchen. Der Verlust an Lebensräumen und ihre Entwertung reduziere die Fähigkeit der Natur, den Klimawandel zu bremsen.
Rechtlich argumentiert der Bund mit den Grundrechten auf Leben, Gesundheit und Eigentum in Artikel 2 und 14 des Grundgesetzes. Zudem seien alle Freiheitsrechte der Menschen gefährdet, wenn der Staat in der Zukunft abrupt umsteuern müsse, weil er wirksame Maßnahmen zu lange aufgeschoben hat. Angeführt wird außerdem das Staatsziel auf Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Artikel 20a und das UN-Abkommen über die biologische Vielfalt von 1992.
Daraus ergäben sich „Schutzpflichten“, die der Staat nicht ausreichend erfülle. Die Naturschutzgesetze im Bund und in den Bundesländern genügten nicht annähernd den Anforderungen. Die 2007 beschlossene „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ habe noch keine Trendwende gebracht. Der Versuch der EU, im Landwirtschaftsrecht umzusteuern, sei nach den Bauernprotesten zur Jahreswende wieder aufgegeben worden. Als Schritt in die richtige Richtung lässt der BUND nur die im Sommer 2024 beschlossene EU-Renaturierungsverordnung gelten. Doch auch diese enthalte zu viele Ausnahmen und sei „bestenfalls ein Anfang“.
Was der Gesetzgeber konkret beschließen soll, lässt der BUND offen. Vermutlich wäre er schon froh, wenn das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ein Unterlassen attestiert und ihn ganz allgemein zur Nachbesserung auffordert. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe als unzulässig abgelehnt wird, weil niemand eine gegenwärtige Verletzung seiner Grundrechte geltend machen kann.
Konkret wurde die Verfassungsbeschwerde von fünf Privatpersonen und drei BUND-Gliederungen eingereicht. Die Privatpersonen erklären, sie fühlten sich vom Biodiversitätsverlust „betroffen“. Eine Asthmatikerin rechnet vage mit Folgen für ihre Gesundheit. Der Biologe Christoph Martin, der die Klage durch eine Großspende ermöglichte, bedauert, dass er seine Faszination für die Vielzahl der vorkommenden Arten nicht mehr an seine Kinder und Enkel weitergeben kann.
Die klagenden BUND-Gliederungen – der Bundesverband und die Landesverbände in Bayern und Sachsen – argumentieren teilweise damit, dass der Ertrag ihrer Streuobstwiesen gefährdet sei.
Das Bundesverfassungsgericht hat bisher Verbände nicht als Umweltkläger zugelassen. Dagegen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in seinem Urteil vom April zu den Schweizer Klimaseniorinnen ausschließlich Verbände und keine Privatpersonen als Kläger akzeptiert. Da sollten sich die Gerichte noch einigen.
Vielleicht gibt es aber auch eine Überraschung, wie 2021 beim Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts. Damals rechneten auch alle mit einer Unzulässigkeit der Klagen. Doch dann ließ Karlsruhe eine Gefährdung der Grundrechte in der Zukunft für die Klageberechtigung ausreichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit