Schuldenkrise in Europa: Wissen wir doch auch nicht
Verstehen Sie, wie Hebel, Schirm und Milliardenpakete den Euro retten sollen? Keine Sorge – Spitzenpolitiker auch nicht. Und sie geben es sogar offen zu.
Es gibt Momente, die ein neues Licht auf Politik werfen. Und der Satz, den Frank-Walter Steinmeier da mitten in seiner Bundestagsrede sagt, ist so einer. "Ich müsste die zweite Option wenigstens verstehen, um mir ein Urteil zu bilden."
Moment mal.
In der Debatte geht es darum, dass der Rettungsschirm auf Billionenbeträge ausgeweitet werden soll, zwei Finanzinstrumente sind geplant. Und ein führender Politiker des Landes, der Chef von über 140 SPD-Abgeordneten, gesteht, dass er eines davon nicht kapiert? Und wenig später stimmt er - und fast der ganze Bundestag - dafür?
Steinmeiers frappierende Ehrlichkeit bricht ein Tabu im politischen Betrieb. Normalerweise lebt dieser von der Inszenierung der Allwissenheit. Während die Regierung erklärt, ihr Handeln sei vernünftig, maßvoll und nutzbringend, kurz: richtig, behauptet die Opposition im Brustton der Überzeugung das Gegenteil. Wenn jemand mal etwas nicht weiß, verletzt er diese Logik und wird vom politischen Gegner mit Spott, von Journalisten mit spitzen Nachfragen überzogen.
Seitdem die Schuldenkrise in Europa wütet, kann man sich mit Recht fragen, ob dieser Umgang mit Nichtwissen noch zeitgemäß ist. Denn sicher ist: So wie Steinmeier geht es vielen Abgeordneten. Das Nichtwissen hat Konjunktur. Immer schneller muss das Parlament immer wichtigere Entscheidungen treffen. Die Regierung kassiert innerhalb von Tagen zuvor aufgebaute Stoppschilder ein, das Parlament muss fantastische Summen und komplizierte Finanzinstrumente fast über Nacht bewilligen.
Die Politik lernt – das ist neu
Steinmeiers Eingeständnis dokumentiert auch den Mangel an Information. Den Abgeordneten lag ab Montag ein dreieinhalbseitiges, in technischem Englisch verfasstes Papier vor, das die Billionen-Instrumente grob umriss, Mittwoch mussten sie entscheiden - ein tieferes Verständnis ist da für den normalen Abgeordneten unmöglich. Und selbst Finanzpolitiker räumen unter der Hand bei Fragen nach Risiken der hochkomplexen Finanzhebel ein: Sie wissen es nicht.
Lässt sich bei einer deutschen Steuerreform noch sehr genau ausrechnen, welche Schicht wie stark profitiert, ist diese Analyse bei der Bewältigung der europäischen Krise ungleich schwieriger. Die Politik lernt, während sie sich sonst in der Rolle des Lehrers gefällt.
Selbiges gilt übrigens auchfür Journalisten. Unser Berufsstand lebt davon, innerhalb von einer Stunde eine schlüssige Meinung zu entwickeln. Auch wir - der Autor eingeschlossen - werden in dieser Krise mit unseren Grenzen konfrontiert, selten klangen Fragen in Pressekonferenzen hilfloser.
Nun lässt sich natürlich auch das Nichtwissen herrlich instrumentalisieren, gerade weil ein solches Eingeständnis so erfrischend ehrlich klingt. Wenn Merkel erzählt, niemand könne abschätzen, ob durch Rettungsschirm-Hebel das Ausfallrisiko deutscher Milliardengarantien steige, sind Zweifel angebracht. Bei der Opposition ist die Klage, zu wenig zu wissen, immer ein Vorwurf an die Regierung. Der der fehlenden Aufklärung, gar der bewussten Täuschung. Was jemand wie Steinmeier weiß.
Doch der vorsichtigere Ton, den er und viele Politiker derzeit wählen, das Tastende, Suchende, ist nur angenehm. Denn er ist einfach angebracht. Es fällt im Moment allen schwer zu sagen, welche Lösung in der Krise ist richtig ist. Aber es bleibt die Aufgabe der Politik, zu begründen, welcher Weg - nach Stand der Dinge - der richtige zu sein scheint.
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