Schüler*innen organisieren Halbgruppen: Revolutionäres angezettelt
In Bremen wollten Schüler*innen sich nicht trotz Corona mit 30 anderen in engen Räumen drängen. So halbierten sie die Kurse auf eigene Faust.
Gleich beginnt im ersten Stock ein Englisch-Kurs, alle paar Minuten steckt eine Schülerin den Kopf durch die Tür des Klassenraums. „Bitte wartet noch einen Augenblick draußen“, sagt Fabienne Pastoor, die ein Interview gibt. Sehr freundlich, sehr bestimmt. Es gibt keinen Widerspruch. Schließlich hat die 18-jährige Abiturientin gerade etwas „Revolutionäres“ angezettelt, wie es ihre Mitstreiterin Kathrin Hajji nennt.
Die 16-jährige Elftklässlerin steht ihrer älteren Mitschülerin in Eloquenz, Selbstbewusstsein und Klarheit in nichts nach. Die beiden sind die Schülersprecherinnen der Oberschule an der Kurt-Schumacher-Allee, kurz KSA, in der Vahr, einem in den 60er Jahren am Reißbrett entstandenen Stadtteil, sechs Kilometer von der Innenstadt entfernt.
Gemeinsam mit ihren Mitschüler*innen haben die beiden jungen Frauen auf eigene Faust Halbgruppenunterricht eingeführt. Also das, was bundesweit Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen seit Monaten erfolglos fordern. Erst am Freitag haben die Kultusminister*innen ihr Festhalten am Präsenzunterricht in voller Gruppenstärke aufgegeben.
Nach den Weihnachtsferien könnte an vielen Schulen Normalität werden, was sie an der KSA seit dem 30. November praktizieren. Nur die Hälfte der 240 Schüler*innen der 11. bis 13. Klasse kommt in die Schule, die andere Hälfte lernt zu Hause, digital unterstützt. Zuvor hatten die Schülersprecherinnen im Oktober den Schulleiter gebeten, die halben Klassen einzuführen. Doch der hatte abgewunken, die Schulaufsicht würde nicht mitspielen.
Warum warten, bis es zu spät ist?
Dafür müsste ein Viertel der Schüler*innen in Quarantäne sein „oder mit dem vorhandenen unterrichtenden Personal der Regelbetrieb nicht uneingeschränkt aufrechterhalten werden“ können. So steht es in einem Schreiben der Bremer Bildungssenatorin vom 10. November. An der KSA war man davon weit entfernt, als die Schüler*innen in vielen Zoom-Meetings im November die Revolution vorbereiteten. Seit Beginn der Pandemie waren bis dahin nur zwei Schüler*innen positiv getestet worden.
Doch die Schüler*innen wollten nicht darauf warten, dass sich mehr infizieren. Warum sich weiter mit bis zu 30 anderen Haushalten in engen Räumen ohne Abstände drängen? Wenn sie außerhalb der Schule angehalten sind, möglichst wenige Leute zu treffen?
„Mich macht das richtig traurig“, sagt Fabienne Pastoor. „Ich bin 18, ich will was erleben, durch die Welt reisen, Partys feiern.“ Sie treffe kaum Freund*innen, es gebe keine Höhepunkte im Alltag. Und wie so viele Mitschüler*innen litt sie unter der Sorge, den Virus mit nach Hause zu bringen. Also überlegten sie, wie sie mit der Pandemie so leben können, dass sie möglichst wenig Schaden anrichtet.
Jeder Kurs, erzählen die beiden, habe sich überlegt, wie die Halbgruppen jeweils zusammengewürfelt sein sollen. Die meisten hätten dafür gesorgt, dass sich Leistungsstarke und -schwächere mischen. Denn natürlich, sagen sie, gebe es einige, für die das Lernen zu Hause schwerer ist als in der Schule.
Das Einzugsgebiet der KSA ist gemischt, Fabienne Pastoor kommt aus dem Gete-Viertel mit Bremer Reihenhäusern, ihre Mutter ist Lehrerin. Die meisten Schüler*innen leben aber in Mehrfamilienhäusern, 70 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Nach dem aktuellen Armutsbericht der Arbeitnehmerkammer beziehen im Stadtteil 40 Prozent der Eltern Sozialleistungen.
Vielleicht sei das der Grund, warum die Revolution dort beginne und nicht an einem Innenstadt-Gymnasium, vermutet Fabienne Pastoor. Die Not sei größer, weil viele Wohnungen so eng seien, dass man sich schlechter vor Ansteckung schützen könne. Und es fehle eine aktive Elternschaft, die sich für ihre Kinder einsetze. „Wir müssen das selbst in die Hand nehmen, das macht niemand für uns.“
Die Schulleitung ist stolz auf die Schüler*innen und lobt sie für ihren Mut. Aber sie sorgen sich auch. „Ich befürchte, dass wir Schüler*innen verlieren“, sagt Stephanie Lipka, die stellvertretende Schulleiterin. „Manche machen zu Hause gar nichts, auch auf Nachfrage kommt nichts“, sagt sie. Einen bis zwei solcher Schüler*innen pro Kurs gebe es, schätzt sie. „Ja, die gibt es“, sagt auch Fabienne Pastoor. „Aber es gibt auch viele, die jetzt besser mitkommen, die sich in den kleinen Gruppen auch mal trauen, etwas zu sagen und dann auch gehört werden.“
Kein bulimisches Lernen
Zudem, sagt Kathrin Hajji, könnten die Lehrkräfte die Schüler*innen jetzt besser individuell unterstützen und auch die Mitschüler*innen hätten ein Auge darauf, wer Hilfe braucht. „Man muss sich nichts vormachen, es gibt in der Pandemie keine perfekte Lösung“, sagt Fabienne Pastoor. Aber es gebe eben schlechtere und bessere Lösungen. Ein weiterer positiver Effekt ihrer Aktion: „Die Lehrer sind nicht mehr so gestresst“, sagt sie.
Das bestätigt Stefan Schulz, der als Vertrauenslehrer die Schüler*innen beraten hat. Wie die Schulleitung hat der Lehrer für Geschichte, Politik und Sport darauf gedrungen, dass sich die Schüler*innen für jeden Fehltag entschuldigen, damit sie keine Probleme bekommen. In fast jedem Kurs gab es Schüler*innen, die aus Angst vor negativen Konsequenzen nicht mitgemacht haben. „Ich fühle mich jetzt wohler“, sagt Stefan Schulz, auch wenn er in den jüngeren Klassen in voller Gruppenstärke und in der fünften und sechsten ohne Maskenpflicht unterrichtet.
Er ärgert sich sehr über Politiker*innen, die so täten, „als mache der Virus vor Schultüren halt“. Aber auch über Kolleg*innen, die die gleiche Menge an Stoff durchziehen wie in normalen Zeiten. „Das bringt jetzt nichts“, sagt er, „da muss man Inhalte abspecken und Methoden lehren, das ist ohnehin sinnvoller als dieses bulimische Lernen.“ Damit meint er: sehr viele Lehrinhalte auf einmal aufnehmen und zu den Prüfungen wieder auskotzen.
Fabienne Pastoor und Kathrin Hajji sehen noch weitere Vorteile. Die Schüler*innen hätten durch die gemeinsame Aktion sehr viel mehr Kontakt untereinander bekommen, Gemeinschaftsgefühl und Hilfsbereitschaft seien gestärkt. Auch die Beziehung zu den Lehrkräften habe sich verbessert, diese bäten häufiger um Feedback und manche um Hilfe bei der Nutzung der digitalen Medien.
„Sie sind mit den Lehrkräften auf Augenhöhe“, sagt der Schulleiter Christian Sauter, und dass nach seiner Einschätzung die meisten Kolleg*innen die Aktion mittragen. Kathrin Hajji erzählt, wie Lehrer*innen die Schüler*innen fragen, was sie als Nächstes durchnehmen wollen. Sie sagt auch, dass sie es schätze, sich ihre Lernzeiten selbst einteilen zu können – und das, obwohl sie sich ihr Zimmer mit ihrem neunjährigen Bruder teilt, der abends schlafen muss, wenn sie den Computer anwirft. Einen reinen digitalen Unterricht kann sie sich aber genauso wenig wie Fabienne Pastoor vorstellen. „Da würde ganz viel fehlen.“
Behörde legitimiert die Aktion
Die beiden finden, dass es gut läuft, besser als erwartet. Die Mehrheit halte sich an die Verabredung, so mitzuarbeiten wie im reinen Präsenzunterricht und rechtzeitig Unterrichtsprotokolle hochzuladen. Aber ihr eigentliches Ziel haben sie noch nicht erreicht. „Wir machen das nicht für uns“, sagt Fabienne Pastoor, „wir wollen, dass sich andere auch trauen.“ Doch bisher hat keine Schule in Bremen nachgezogen: Angesichts der neuen Lockdown-Beschlüsse wird das erst einmal nicht mehr nötig sein.
Die Bremer Bildungsbehörde hat derweil einen eleganten Weg gefunden, mit der Aktion umzugehen. Denn kurz nach Beginn der Schüler*innen-Aktion gab es zwei Positivfälle bei Schüler*innen. Mehr als 10 Prozent der Lehrkräfte hätten daraufhin in Quarantäne gehen müssen, schreibt die Sprecherin der Bildungsbehörde der taz.
Damit seien die Voraussetzungen für Hybrid-Unterricht erfüllt. Dass die Fälle gar nicht in der Oberstufe waren und die Lehrkräfte überwiegend in den unteren Klassen unterrichten, für die kein Halbgruppenunterricht gilt, erwähnt sie nicht. Auch nicht, dass die Quarantäne am Freitag auslief, die Erlaubnis aber bis Weihnachten gilt.
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