Schriftkünstler Axel Malik über Schreiben: „Es ist ein Raum der Reflexion“
Axel Malik schreibt, jeden Tag, nicht entzifferbare Zeichen. In dieser „skripturalen Methode“ findet er zu einer Sprache, unlesbar, aber nicht unleserlich.
wochentaz: Herr Malik, Sie haben in den vergangenen 34 Jahren 30.000 Seiten mit Zeichen beschrieben, die gar nicht lesbar sind. Warum verschreibt man sich solch einem unnütz wirkenden Schreiben?
Axel Malik: Das geht bei mir ganz weit zurück. Ich habe schon immer sehr gern handschriftlich geschrieben. Wenn ich in meiner Jugend Briefe geschrieben habe, habe ich sehr lange Briefe geschrieben, einfach weil ich sehr gern geschrieben habe. Schreiben ist für mich ein ganz besonderer Raum und eine besondere Sache. Es ist eine ganz normale, nützliche Funktion. Aber damit kann man sich auch auseinandersetzen. Das Schreiben kann eine Aufladung haben, und bei mir hatte es das. Es ist ein Raum der Reflexion, der für mich etwas Besonderes hat. Ich habe damit schon als Kind, als Jugendlicher und als Erwachsener gespielt und die Intensitäten haben sich dabei immer weiter ausgebreitet.
Irgendwann ist beim Schreiben etwas Besonderes passiert. Wie ist das erste Zeichen entstanden?
Ich habe ein Schreibexperiment gemacht. Ich habe mich gefragt: Was passiert, wenn ich die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmungskraft, die beim handschriftlichen Schreiben ja sonst bei den Gedanken ist, auf die Schreibbewegung richte. Das Schreiben selbst ist ein automatischer Vorgang, er braucht weder Wahrnehmungskräfte, noch muss man aufmerksam sein. Es ist ein konditionierter Reflex. Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn man dem Schreiben selbst Aufmerksamkeit und Wahrnehmung zuführt. Ich habe also dieses Experiment durchgeführt und später auch einzelne Schreibsequenzen auf Video aufgenommen.
Der Mensch
Axel Malik, geboren 1953 in Jugenheim in Rheinhessen und heute in Berlin lebend, verfolgt seit 1989 in täglicher Übung seine „skripturale Methode“.
Die Kunst
Diese Methode Maliks war seit den 90ern in vielen Ausstellungen zu betrachten. Derzeit ist Malik „Artist in Residence“ an der Universität Hamburg und bis 31. Oktober ist in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek seine Zeicheninstallation „Die fiebrige Bibliothek“ zu sehen. Den Titel hat sich Malik bei Jorge Luis Borges aus dessen Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ geborgt.
Und was ist passiert?
Ich habe das wie einen Schock erlebt, weil ich gemerkt habe, dass das Schreiben nicht nur in sich ein ungemein differenzierter und komplexer Vorgang ist, sondern dass sich dabei Bewegungsspuren und zeichenartige Gebilde formatieren, die nicht lesbar sind. Sie sind, wie ich immer sage, unlesbar, aber nicht unleserlich.
Wie meinen Sie das?
Es ist kein Krickelkrakel, das man einfach wegschmeißt. Diese Zeichen haben eine präzise gestalthafte Form und sie wiederholen sich nicht. Wenn man mir das als Konzept vorgestellt hätte, hätte ich das zum Beispiel ausgeschlossen. Ich hätte gedacht, ein Schreiben, das semantisch leer ist, ist kein Schreiben und führt zu nichts. Möglich, dass es ein paar grafisch interessante Spuren hinterlässt, aber im Grunde ist es, weil es geistlos ist, eine Sache, mit der man nach spätestens zwei, drei Wochen wieder aufhört.
Aber es ist das Gegenteil passiert?
Ja, mich hat es erschüttert, weil ich mir nicht erklären konnte, wie es sein kann, dass die Schreibbewegung aus sich selbst heraus, in dieser rasender Geschwindigkeit, das passiert in einem Affenzahn, scheinbar endlos Zeichen generieren kann. Diese Zeichen sind nicht gestaltet, sondern verkörpern sich aus dem Momentum und der Dynamik des Augenblicks heraus. Ohne Absetzen und ohne Korrektur in einem einzigen ununterbrochenen Bewegungszug. Was führt dazu, dass sie sich nicht wiederholen? Und worauf beruht ihre präzise Form und Individualität? Was ist das für ein unbegrenzter Zeichenvorrat in der Schrift? Und was besagen diese Zeichen als Bewegungskörper? Was ist das für ein Beziehungsgeflecht und Vermögen, Beziehungen einzugehen, das sich wie ein Text, Zeile um Zeile, aus den Zeichen ab- und herauslesen lässt? Das ist mir wie ein Schock in die Glieder gefahren und ich habe gesagt: Ich widme mich dem. Ich versuche herauszufinden, was da vor sich geht.
Im Video, das Sie vom Experiment gemacht haben, sieht man die Hand vor dem Aufsetzen in einer Spannung verharren. Es wirkt auf mich, als lade die Hand sich auf und setze dann etwas frei in einer Geschwindigkeit, die schneller ist, als ein Gedanke sein kann. Ich habe mich gefragt, ob das Zeichen in diesem Verharren entsteht oder beginnt? Aber Sie sagen, es gibt bei Ihrer skripturalen Methode gar kein Konzept?
Wenn Sie jetzt während des Gesprächs mit einem Stift auf einem Blatt herummalen, dann schmeißen Sie es nachher weg. Und Sie machen es, ohne dem Aufmerksamkeit zu widmen. Sie können es nebenbei machen. Es ist eher ein motorisches Abreagieren. Sie kämen aber nicht auf die Idee zu sagen: Das wird jetzt meine Hauptsache, jetzt mache ich das absichtsvoll. Ich wollte wissen: Was kann denn die Schreibbewegung aus sich selbst heraus notieren oder was spielt sich da eigentlich ab? Ich habe das nicht vorher konzeptuell groß durchdacht, es war ein spielerisches Experiment: Statt semantisch Sätze auf ein weißes Papier zu schreiben, empfinden Sie diesen Schreib-Raum und beobachten sich selbst beim Schreiben. Sie geben nicht Ihren Gedanken, sondern Ihrem Schreibimpuls Ihre Intensität, Ihre Aufmerksamkeit und Neugier. Aus dieser Gegenwärtigkeit und Anwesenheit in der Schreibbewegung kommt dann so was heraus.
Braucht es für diese Art der Schreibbewegung ein besonderes Talent?
Wenn man diese Zeichen sieht, könnte man denken, ich sei eine Art Schnellzeichner und hätte da irgendwelche Talente. Aber die habe ich nicht. Das würde bei Ihnen genauso herauskommen. Nur wenn wir normalerweise schreiben, ist die Schrift konditioniert, sie ist festgelegt. Sie muss ein ganz kleines Repertoire haben, sonst könnten wir nicht schreiben. Sich in einem Satz etwas ausdenken und zugleich noch komplexe Bewegungen mit der Hand steuern, das wäre unmöglich. Hier ist es quasi das Gegenteil: Sie erlauben der Schrift, jeden Millimeter der Wegstrecke etwas zu tun, das ihr selbst gemäß ist, das aus ihr heraus entsteht. Und was dabei herauskommt, empfinde ich als eine Ungeheuerlichkeit: Wie kann es denn sein, dass sich diese Zeichen nicht wiederholen? Wie kann es sein, dass es diese strukturellen Texte artikuliert? Was ist das für eine Art von Sprache, die unlesbar ist, aber nicht unleserlich?
Und vor diesem Ereignis waren Sie gar kein Künstler?
Ich habe das privat für mich gemacht, das war für mich wie Tagebuch schreiben. Ich habe es die ersten Jahre über nicht vielen Leuten gezeigt. In einem normalen Tagebuch schreibt man über das, was einen bewegt. Und bei diesem Tagebuch ist es die eigene Bewegtheit, das, was man dabei erlebt, die man notiert und aufzeichnet. Erst ein paar Jahre später ist mir aufgegangen, dass das im Grunde ein Kunstprojekt ist. Und ich habe gemerkt, dass mich das brennend interessiert und ich eigentlich nichts anderes machen möchte. Ich habe gedacht: Ich muss mit dieser Sache ins Kunstsystem.
Wie erforscht man diese unleserliche Sprache, wie geht man vor? Gibt es Regeln?
Mir war schnell klar: Das macht man nicht nach Lust und Laune. Ich hab mir da viel von Musikern abgeschaut. Ein Musiker übt jeden Tag ein, zwei Stunden mit seinem Instrument und er stellt das gar nicht in Frage. Das habe ich mir als Vorbild genommen und habe mir ein strenges Programm auferlegt: Jetzt wird jeden Tag geschrieben. Damit man das internalisiert und sich nicht fragt, ob man schreiben will oder nicht. Das befreit. Ich habe einmal András Schiff, den weltberühmten Pianisten, bei einem Konzert erlebt. Er hat immer wieder nur eine einzige Taste angeschlagen. Aber ich hatte dabei das Gefühl, er spielt eine Oper! Er repetiert eine einzige Taste, aber Ihnen schlackern die Ohren. Aber was macht den Unterschied aus?
Worin liegt er?
Den Unterschied macht die Kraft, die in einem Ton liegen kann. Und die kann sich auf alles übertragen. Wenn man eine Sache mit einer großen Neugierde und Leidenschaft macht, dann kommt automatisch etwas zurück. Die Beziehung, die sich zu den Tönen oder Zeichen feststellen lässt, ist das Entscheidende.
Ich habe Sätze von Ihnen gefunden, die hören sich programmatisch an: „Die Schrift muss diese Realität, diese mit und durch Bedeutung kontaminierte Realität überwinden, um zur Wirklichkeit ihrer realen und unbedingten Bewegung vorzudringen.“ Wo rührt die skripturale Methode an philosophische Fragen?
Mich beschäftigt das Schreiben in seinen sinnlichen Qualitäten. In der Wahrnehmung können Schreibgesten, die auf sich selbst gerichtet werden, zeigen, dass ihre Besonderheit ungezähmte Wucht und zugleich ästhetische Stimmigkeit sind. Aber ich denke natürlich auch darüber nach. Die Funktionalisierung von Zeichen in Schreiben und Schrift ist eine großartige Erfindung. Ich liebe Literatur, ich liebe Bücher, ich liebe es, zu lesen. Aber dabei geraten Potenziale von Schreibbewegung aus dem Blickwinkel, die sich nicht kontrollieren und domestizieren lassen. In den Zeichen wird etwas vernehmbar, es artikuliert sich, es äußert sich als strukturierte Form. Gleichzeitig sind diese Atmosphären nicht verfügbar, sie lassen sich nicht aneignen. In ihrer Dichte und, wie ich das empfinde, genauen Entschiedenheit und Entschlossenheit entziehen sie sich einem auch. Was mich erschüttert, ist, dass die Welt zum allergrößten Teil auf diesen unkontrollierbaren und unlesbaren Beziehungen und Atmosphären besteht.
Geht es da um Befreiung, um die Freisetzung von Potenzialen und die Wiederentdeckung verloren gegangener Kraft? Oder um so etwas wie ein Unbewusstes des Schreibens?
Es geht nicht um ein Unbewusstes im psychologischen Sinne wie im Surrealismus. Da haben die Leute Séancen gemacht oder Drogen genommen, weil sie gesagt haben, auch in Schattenseiten liegt schöpferisches Potenzial. Darum geht es bei mir nicht. Ich bin absolut wach und konzentriert, wenn ich das mache. Ich versuche, die Bewusstseins- und Wahrnehmungskräfte möglichst scharf zu stellen und auf die Schreibbewegung zu fokussieren. Unter diesem Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsdruck platzt die Schreibbewegung auf und generiert endlos Zeichen, die für sich genommen sehr komplexe Bewegungsmodelle und choreografische Ereignisse im Filigranen und Feinen sind. Unsere Wahrnehmung ist viel größer als das, was wir uns vorstellen oder was wir nutzen.
Noch mal zurück zur Philosophie. Diese bewusste Hinwendung zum Setzen der Zeichen, zum Moment, in dem es sich der Kontrolle durch die Bedeutung entzieht: Klingen da auch politische und alltagsphilosophische Fragen an? Es geht um Ekstase, um Eskalation, um Kontrolle und Planbarkeit. Lässt sich das auf politische Fragen übertragen, auf Fragen der Lebensführung?
Diese Zeichen sind nicht planbar, sie sind von einer unkontrollierten Wildheit. Sie machen das aus sich selbst heraus, das empfinde ich als eine unglaubliche Ekstase. Und diese Ekstase scheint doch der Welt überhaupt zugrunde zu liegen, allen Dingen. Das Schreiben wird aus jeder Bedeutungssituation herauskatapultiert und ein existenzieller Vorgang der Reibung, der Bewusstwerdung und der Auseinandersetzung mit dem Leben. Große Poesie entsteht nicht, weil jemand eine Idee hat. Die Sprache selbst ist ekstatisch und der Poet versucht eigentlich nur, dieser Ekstase auf die Spur zu kommen oder ihr zu entsprechen. Auch die Wucht und Intensität der Schreibbewegung und die Differenziertheit der Zeichen, die erzeuge nicht ich. Das ist etwas, das liegt vor. Ich habe das Gefühl, das irgendwie beantworten und verantworten zu müssen, aber ich bin nicht der Autor dieser Zeichen.
Sie haben in den vergangenen Jahren immer wieder Ihre Zeicheninstallationen in Bibliotheken gezeigt, derzeit ist Ihre Intervention „Die fiebrige Bibliothek“ in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek zu sehen. Was reizt Sie an diesen Orten?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Bibliotheken sind die eigentlichen Habitate der Zeichen. Wir haben eine Bibliothek der lesbaren Zeichen. Ich glaube, dass dem eine Bibliothek der unlesbaren Zeichen zugeordnet werden müsste. Beides ist vorhanden. Wenn es stimmt, dass diese unleserlichen Zeichen sich nicht wiederholen und es einen endlosen Text gibt, der aus diesen Zeichen besteht, dann muss man sich fragen: Kann es eine Sprache geben, die aus einem unendlichen Zeichenvorrat besteht? Mich motiviert, dass Bibliotheken in der Regel keine Kunstorte sind, sondern Orte, an denen geschrieben wird. Was passiert, wenn an diesen Orten unlesbare Schrift auftaucht? In Hamburg werden in der Bibliothek unlesbare Bücher sein und ich werde schreiben und an verschiedenen Stellen mit diesen unlesbaren Texten arbeiten. Das ergibt eine erregende Spannung, dass diese Welten der Lesbarkeit und Bedeutung und die unlesbare Bewegtheit zusammenkommen. Das halte ich für eine sehr stimmige und stimulierende Reibungsfläche.
Man füllt also sozusagen den Tempel der unendlichen Kombination von bekannten Zeichen mit der Unendlichkeit immer neuer Zeichen auf?
Ja, mit Zeichen von einer großen Bewegtheit oder Ekstase oder Hitze. Jorge Luis Borges, der nicht nur Dichter, sondern auch Bibliothekar war, hatte diese merkwürdige Vision von Büchern, bei denen man beim Umblättern nie mehr zur selben Seite zurückkommt, dieses Labyrinthische. Aus seiner Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ habe ich den Ausdruck „die fiebrige Bibliothek“ als Titel für meine Installation entnommen. Man fragt sich, ob Borges das Leben selbst als Bibliothek und Labyrinth verstanden hat. Aber die unendliche distinkte Zeichenvariation ist eben auch ein Ordnungsprinzip. Und diese Bewegtheit ist das Gegenteil. Man stürzt da eher ins Chaos, aber dieses Chaos ist keine vage Sphäre der Undeutlichkeit, sondern es ist eben eine zwar unlesbare, aber nicht unleserliche Dimension. Sie ist für uns ein wichtiger Bezugspunkt, weil wir darin etwas von unserem Potenzial erfahren. Wir bestehen nicht nur aus Rationalität und Berechenbarem, sondern auch aus dieser Unleserlichkeit. Das Leben hat keinen vorgegebenen Sinn, sondern wir geben ihm einen, wir stiften einen Sinn. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit diesen Unlesbarkeiten, die wir selbst sind. Heute reden wir viel über Identitäten, die wir fix definieren. Worüber wir allerdings nicht so oft sprechen, ist, wie groß die unlesbaren Anteile in uns sind, dass diese uns eigentlich erst das Humanum definieren. Menschen sind viel eher das Unlesbare als das Definierbare.
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