Schau zu Märchen und Comics in Kassel: Wenn Fische Menschen mit Tabak ködern
Die Ausstellung „Ich, das Tier“ in der Kasseler Grimmwelt zeigt die Entwicklung anthropomorpher Tierfiguren vom Märchen bis zum Zeitungs-Comicstrip.
Es ist eine apokalyptische Szenerie. Im Zentrum des doppelseitigen Panels ist ein riesiger Festungswall zu sehen, dem sich von allen Seiten Panzerkolonnen, Bodentruppen und aus der Luft Kampfflieger nähern. Auf einer Seite des Walls klettert eine unendliche Masse an Stahlhelmen und Uniformen die Mauer hoch. Es sind Wolfshorden, die das Land der friedlichen Kaninchen angreifen.
Das Wimmelbild aus Edmond-François Calvos Comic „Die Bestie ist tot“ illustriert in verdichteter Weise den Angriff von Hitlers Wehrmacht auf Frankreich 1940. Der Künstler (1892–1957) zeichnete die Geschichte des Zweiten Weltkriegs als Tierparabel zwischen 1943 und 1944, also noch während der deutschen Besatzungszeit, und setzte damit sein Leben aufs Spiel.
Die Ausstellung „Ich, das Tier“ ist nicht zufällig von der Grimmwelt Kassel initiiert worden, die dieses Jahr ihr zehnjähriges Jubiläum feiert. Liegen doch die Wurzeln der anthropomorphen Tierdarstellung – darin werden menschliche Verhaltensweisen auf Tiercharaktere projiziert – in antiken Fabeln wie in frühen Märchen, die maßgeblich von den Brüdern Grimm gesammelt und geprägt wurden.
Garfield darf natürlich nicht fehlen
Die vom Dortmunder Kunsthistoriker Alexander Braun kuratierte Schau zieht einen Bogen von den Anfängen gezeichneter Tierdarstellungen in Bilderbogen des 19. Jahrhunderts bis hin zu zeitgenössischen humoristischen Cartoonfiguren wie „Garfield“ und innovativen Formaten wie der US-Serie „Fables“.
Viele der von den Brüdern Grimm zusammengetragenen Erzählungen enthalten vermenschlichte Tierfiguren. Doch erst ab 1825 wurde die Märchensammlung zum Bestseller, als die „Kleine Ausgabe“, eine kompakte Auswahl mit Illustrationen, erschien.
„Ich, das Tier – Vom bösen Wolf bis Donald Duck – Tiere im Comic“. Grimmwelt Kassel, bis 12. April 2026. Katalog (Panini Verlag): 39 Euro
Die beliebten deutschen Bilderbogen, günstig zu erwerbende Einblattdrucke, griffen im 19. Jahrhundert häufig auf Tiermärchen wie „Froschkönig“ oder „Der gestiefelte Kater“ zurück und trennten Bilder und Texte meist säuberlich. Origineller waren die Münchener Bilderbogen Wilhelm Buschs und Adolf Oberländers, deren selbst erdachte Bildergeschichten sich durch satirischen Biss auszeichneten und moderne Comicformen bereits antizipierten.
Aufwändige Illustrationen
In Frankreich sind die Tierfabeln des barocken Schriftstellers Jean de La Fontaine besonders populär. Vom Meisterillustrator Gustave Doré (1832–1883) sind in Kassel einige aufwendige Illustrationen zu La Fontaines Parabeln zu sehen. Dorés älterer Zeitgenosse Grandville (1803–1847) schuf wiederum ganze Zyklen von Illustrationen, die gängige Muster der Tierfabeln ad absurdum führten. Seine surrealen Szenen sind voller Mischwesen zwischen Pflanze, Tier und Mensch.
In einer Lithografie zeigt er angelnde Fische, die im Wasser plantschende Menschen mit Schmuck, Tabak oder Urkunden ködern. Grandville hielt der damaligen Gesellschaft auf originelle Weise den Spiegel vor. Walter Benjamin interpretierte dessen Werke später als Kritik an der Warenwelt während der aufkommenden Frühindustrialisierung und bezeichnete Grandville als „Zauberpriester“ des Fetischs Ware.
Ausführlich geht die Schau auf US-Comicstrips in Tageszeitungen ein, die Tiere erstmals als feste Serien-Protagonisten etablierten. Gus Dirks (1881–1902) war ein deutscher Einwanderer und schuf als Comicpionier in seiner kurzen Lebenszeit ein ganzes Universum namens „Bugville“. Darin übertrug Dirks menschliche Verhaltensweisen auf bezaubernde Weise in die Welt der Käfer und weiterer Insekten. „Felix the Cat“ von Pat Sullivan war in den 1920ern wiederum der beliebteste anthropomorphe Tiercharakter.
Der Micky Maus-Schub
Walt Disney versetzte dem zeitgleich sich entwickelnden Zeichentrickfilm einen gewaltigen Schub, als er ab 1928 mit der frechen „Micky Maus“ erste animierte Ton- und Musikfilme schuf. In der Schau sind seltene Animationszeichnungen aus dem ersten Langfilm „Schneewittchen“ von 1937 ausgestellt, in denen Tiere als kluge Helfer der menschlichen Protagonisten fungieren.
„Ich, das Tier“ zeigt einen großen Facettenreichtum animalischer Metamorphosen, der bis in die Gegenwart reicht. Weitere Höhepunkte stammen aus den nuller Jahren: Bryan Talbot ( geboren 1945) versetzt in fünf Comicalben seinen Dachs-Detektiv „Grandville“ in eine Steampunk-Version des viktorianischen London.
Inhaltlich nicht weniger ambitioniert ist die von Bill Willingham verfasste US-Heftreihe „Fables“. In der in realistischem Stil von Mark Buckingham gezeichneten Serie werden bekannte Märchencharaktere aus ihrer Welt ins New York der Gegenwart vertrieben. Die Figuren erfahren in der Erzählung neue Deutungen: Meister Gepetto wird zum Kriegstreiber und der freundliche Wolf „Bigby“ zeugt mit Schneewittchen Kinder.
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