Säkularisierung an türkischen Schulen: Der Kulturkampf im Unterricht
Weit mehr als eine Posse: Im Weihnachtsstreit am Istanbul Lisesi geht es keineswegs nur um christliche Festtagsbräuche.
In einer Erklärung der deutschen Abteilungsleitung an die 35 deutschen Lehrer hieß es Montagnachmittag: „Nach einer gemeinsamen Sitzung zwischen der türkischen Schulleitung und der Leitung der Deutschen Abteilung kann ich Ihnen mitteilen, dass kein Verbot vorliegt, Weihnachten im Unterricht zu besprechen.“
War der Weihnachtsstreit am Istanbul Lisesi also nur ein Sturm im Wasserglas, ein Missverständnis im Kollegium – und ist nun alles wieder gut? Mitnichten! Die vermeintliche Weihnachtsposse wirft ein grelles Licht auf den Versuch türkischer Behörden, die Bildungspolitik des Landes zu islamisieren.
Das Istanbul Lisesi – nicht zu verwechseln mit der deutschen Auslandsschule der Botschaft – ist eines der führenden Gymnasien des Landes. Es existiert seit 1896 in einem alten osmanischen Prachtbau in der Nähe der Hagia Sophia. Ihm angeschlossen ist ein Internat. Wer es schafft, auf diese Schule zu kommen, wird mit großer Sicherheit auch eine führende Universität absolvieren und später zu den Führungskräften des Landes zählen.
Wurzeln im Osmanischen Reich
Andere türkische Eliteschulen haben einen Französisch-, Englisch- oder Italienischschwerpunkt. Das Istanbul Lisesi ist seit mehr als hundert Jahren mit Deutschland verbunden.
Ab 1903 wurde der Deutschschwerpunkt des Istanbul Lisesi im Rahmen eines Kulturabkommens durch die Entsendung deutscher Lehrer unterstützt, die vom deutschen Staat bezahlt werden. Sie sollen dafür sorgen, dass den Absolventen deutsche Sprache und Kultur nahegebracht wird, damit sie sich als zukünftige Führungskräfte für Deutschland interessieren.
Das Ganze geht noch auf das Osmanische Reich zurück: Damals konkurrierten die verschiedenen europäischen Mächte um Einfluss in Konstantinopel, umgekehrt suchte das Osmanische Reich den Anschluss an Europa.
Heute gehört das Istanbul Lisesi zusammen mit anderen rund 150 sogenannten Anadolu-Schulen – die teilweise ebenfalls einen Deutschschwerpunkt haben, was dazu führt, dass Deutschland rund 80 Lehrer an türkische Schulen entsendet – zu den führenden Gymnasien des Landes. In ihnen machen überwiegend Kinder aus säkularen, westlich orientierten Familien ihren Schulabschluss. Nur sehr gute Schüler schaffen es, aufgenommen zu werden.
Freiheitliche Gymnasien
Präsident Recep Tayyip Erdoğanund seiner islamischen Regierungspartei AKP ist es schon lange ein Dorn im Auge, dass die Kinder in den besten Gymnasien des Landes säkular und vergleichsweise freiheitlich zu unabhängigen Individuen erzogen werden – statt, wie Erdoğanschon vor Jahren forderte, eine „neue religiöse Generation heranzuziehen“.
Folglich erklärte das Bildungsministerium im März 2014 diese – insgesamt 155 – Schulen zu „Projektschulen“, die angeblich digital besser ausgestattet werden und ihren naturwissenschaftlichen Schwerpunkt ausbauen sollen. Ein Jahr später erhielten alle diese Schulen neue, vom Bildungsministerium ausgesuchte Rektoren. Diese zeichnen sich – wie auch am Istanbul Lisesi – vor allem dadurch aus, dass sie streng muslimisch und AKP-nah sind.
Gleichzeitig hat das Bildungsministerium begonnen, viele Lehrer auszutauschen. Yusuf Tekin, Staatssekretär im Bildungsministerium, erläuterte dazu vor einem Jahr: „Von den 4.598 Lehrern an den 155 Projektschulen sind 1.187 länger als acht Jahre an der jeweiligen Schule. Diese Lehrer werden nun ausgetauscht.“
Seitdem werden die besten FremdsprachenlehrerInnen und andere für den Charakter der Schule wichtige Lehrkräfte gefeuert. Sie werden durch junge, AKP-nahe LehrerInnen ersetzt.
Schüler und Eltern protestieren
An etlichen Anadolu-Schulen kam es daraufhin zu heftigen Protesten der Schüler und Eltern. Auch am Istanbul Lisesi protestierte der Abgangsjahrgang 2015 bei der Feier anlässlich der Vergabe ihrer Diplome gegen den Umbau ihrer Schule.
Sie boykottierten die Rede des Rektors und beklagten zunehmende Verbote von Unterrichtseinheiten, die in der Vergangenheit dazu dienten, den intellektuellen Horizont der Schüler zu erweitern. Kritische Schriftsteller durften nicht mehr eingeladen werden, Theater- und Musikarbeitsgemeinschaften wurden verboten oder behindert, Klassenreisen untersagt.
Viele andere Anadolu-Schulen erklärten sich mit den Absolventen des Istanbul Lisesi solidarisch. In anderen Schulen berichteten Schüler gegenüber türkischen Medien, bei ihnen würden die Mädchen unter Druck gesetzt, keine kurzen Röcke oder enge Hosen mehr zu tragen, Jungen würden genötigt, sich die Haare schneiden zu lassen. „Alles wird immer konservativer und reaktionärer“, sagte ein Schüler der türkischen BBC.
In diesen Kulturkampf platzte nun die Anordnung des Rektors des Istanbul Lisesi an die deutschen Lehrer, Adventskalender und Kerzen aus den Schulräumen zu entfernen und christliche Bräuche und Lieder nicht mehr im Unterricht zu behandeln. Angeblich hätten sich Eltern von Schülern wegen christlicher Indoktrinierung beschwert. Der Verweis auf protestierende Eltern ist beliebt in solchen Fällen. Erst kürzlich wurde ein Geschichtslehrer suspendiert, weil sich Eltern darüber beschwert hätten, dass der Prophet in seinem Unterricht beleidigt worden sei.
Der Rückzieher
Auch wenn die Schulleitung angesichts des Aufschreis in Deutschland nun einen Rückzieher gemacht hat, ändert das nichts an der grundsätzlich neuen islamischen Linie des Istanbul Lisesi und der anderen Anadolu-Schulen.
Das machte ebenfalls am Montag der führende AKP-Politiker Mustafa Sentop deutlich. Sentop gehört dem AKP-Vorstand an, er ist Abgeordneter und leitet den Verfassungsausschuss des Parlaments. Zum Weihnachtsstreit schrieb er auf Twitter: „Es kann nicht sein, dass in staatlichen türkischen Schulen ausländische Lehrer türkische Kinder missionieren. In der Vergangenheit ist es sogar vorgekommen, dass deutsche Lehrer in der Weihnachtszeit Glühwein gekocht und den Schülern zu trinken gegeben haben. (…) Es ist klar, dass sich der deutsche Staat hinter seine missionierenden Lehrer stellt. Was aber würde mit einem türkischen Lehrer passieren, der deutschen christlichen Schülern an einer staatlichen Schule in Deutschland den Islam predigt? Kommt zu euch. In einer staatlichen Schule kann man es nicht zulassen, dass der deutsche Staat religiöse Propaganda betreibt.“
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