SUV-Unfall mit vier Toten in Berlin: Modellkiez als Antwort
Vor drei Jahren starben vier unbeteiligte Passanten in der Invalidenstraße. Rasch entstand ein Radweg, nun startet ein Anwohnerverfahren.
Am Dienstag jährt sich der Unfall an der Invalidenstraße Ecke Ackerstraße zum dritten Mal. Er hat die Stadt aufgewühlt, verkehrspolitische Diskussionen ausgelöst und einen Kiez verändert. Was ist davon geblieben?
Der Fahrer eines Porsche Macan hatte seinen SUV binnen Sekunden auf über 100 Kilometer pro Stunde beschleunigt, war an vor der Ampel wartenden Autos vorbei auf der linken Spur ungebremst in eine Fußgängergruppe gerast. Die vier Menschen auf dem Bürgersteig hatten keine Chance.
Im Februar 2022 wurde der Fahrer zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Zwei Jahre darf er kein Auto fahren. Das Urteil ist rechtskräftig. Er hatte sich gegen den Rat seiner Ärzte nach einer Hirnoperation ans Steuer gesetzt, einen epileptischen Anfall erlitten und daher das Gaspedal durchgedrückt. Das konnte das Gericht in einem langwierigen Prozess klären. Offen blieb der genaue Ablauf des Unfalls.
Anwohnerbeteiligung Gemeinsam mit Anwohner*innen, Akteur*innen und Bezirk will die TU-Berlin ein Mobilitätskonzept für die verkehrssichere Umgestaltung der Invalidenstraße und des angrenzenden Kiezes entwickeln.
Planungswerkstatt Vom 14. bis 18. September 2022 werden Gestaltungsvorschläge erarbeitet (werktags 16-20 Uhr, Wochenende 14-18 Uhr). Torstraße 208, modellkiez.hypotheses.org
Zugunsten des Angeklagten
Das Gericht ging zugunsten des Angeklagten von einem „nicht bewussten Ausschervorgang“ aus, hieß es in der Urteilsbegründung. Der Prozess sei eine Lehrstunde dafür, wie ungenau Zeugenaussagen seien, erinnert sich der Anwalt Lukas Theune, der im Prozess die Familie des Kleinkinds als Nebenkläger vertrat. „Es gab von 10 Zeug*innen 10 verschiedene Schilderungen.“ Mal habe es geheißen, der Fahrer sei völlig unauffällig gefahren, mal, er habe überholen wollen, um sich vorne an der Ampel vor alle anderen Autos zu setzen. Ein Uberfahrer habe ausgesagt, er habe schon vorher ein verbotenes Überholmanöver durch den Fahrer beobachtet. Die Richter seien folgerichtig von der für den Angeklagten günstigen Variante ausgegangen.
Empfohlener externer Inhalt
Ursächlich für den Unfall war die Gesundheit des Fahrers, nicht sein Auto, so lautete der verkürzte Tenor der Berichterstattung. Die Kritik, dass ein mit 400 PS völlig übermotorisierter SUV nichts in einer Innenstadt zu suchen habe, war für viele vom Tisch. Dabei wurde diese Frage vor Gericht schlichtweg nicht geklärt.
Umbau des Kiezes
Der Umbau des Kiezes hatte da längst begonnen. Tempo 30 wurde sofort verhängt. Kaum anderthalb Jahre nach dem Unfall wurden zudem die Parkplätze auf der Invalidenstraße gestrichen. Stattdessen gibt es dort auf 600 Metern Länge durch Poller geschützte Radwege, die so optimal sind, dass sie das Herz jedes Fahrradlobbyisten höher schlagen lassen.
Angekündigt waren zudem Haltestellenkaps, die den barrierefreien Einstieg in die Straßenbahn ermöglichen sollen. Ein Denkmal am Unfallort. Und der Kiez sollte zum verkehrspolitischen Modellprojekt werden.
Doch mittlerweile ist auch beim Umbau vor allem eins angesagt: Entschleunigung. Für die Haltestellenkaps, die laut Senatsverkehrsverwaltung ursprünglich schon 2021 angekündigt waren, will die BVG keinen Termin nennen. Das hänge auch von der anstehenden Sanierung des U-Bahn-Tunnels in der Brunnenstraße ab. Vor 2024 tut sich da nichts, heißt es aus der Senatsverwaltung.
Und der Gedenkort an der Unfallstelle? Dort soll ein Brunnen hin, den die Künstlerin Nina Schuiki entworfen hat. Das hat eine Jury Ende 2021 entschieden. In den Brunnen soll Sumpfschafgarbe gepflanzt werden, die anspielt „auf die Figur des Achilles aus der griechischen Mythologie, der sie zur Heilung der Wunden seiner Krieger verwendete“. Wann der Brunnen gebaut wird, ist offen. Die Finanzierung ist nicht geklärt.
Umfassende Problemanalyse
Nur mit dem Modellkiez geht es voran. Langsam, aber stetig. Das Fachgebiet integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin hat eine umfassende Analyse der Probleme aufgelistet. Hier fehlen Überquerungsmöglichkeiten für Fußgänger, dort Parkplätze für Lieferverkehr, für Behinderte, für Fahrräder. Nebenstraßen leiden unter Durchgangsverkehr, Ampeln sind Gefahrenorte, der Verkehrslärm ein Stressfaktor.
Über Lösungen wollen die Wissenschaftler:innen der TU Mitte September mehrere Tage lang in einem sogenannten Charrette-Verfahren mit Anwohner:innen diskutieren. Kommen dürfen alle Interessierten.
Dass so etwas nicht ohne Widersprüche geht, zeigte sich erst letzten Donnerstag bei einem Kiezspaziergang mit dem Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Ephraim Gothe (SPD). Da schimpfte eine Anwohnerin über die nun schnelleren Radfahrer, durch den Radweg sei für Fußgänger alles unübersichtlicher geworden. Und dass Rentner mit kleinen Autos vertrieben würden, weil sie nicht mehr vor ihrem Haus parken könnten. Darauf stellte sich ein Anwohner als Rentner mit kleinem Auto vor und widersprach ihr vehement.
Bürgerbeteiligung führe zu Frustration, „wenn man es falsch macht“, betont TU-Professor Oliver Schwedes, der das Modellkiez-Projekt leitet. Deshalb sage er den Anwohner:innen stets zu Beginn deutlich, dass es keine Eins-zu-eins-Umsetzung ihrer Wünsche geben werde.
Am Ende entscheidet die Politik
„Am Ende muss die Politik entscheiden, was sie will“. Und auch, wie mutig sie ist. Ob sie das Risiko eingeht, sich bei Klagen auch mal eine blutige Nase zu holen. Intern, sagt Schwedes, habe er bereits angeregt, die Invalidenstraße einfach mal komplett zu sperren, wenn die Haltestellenkaps gebaut werden. So könne man „mal ausprobieren, was passiert“. Autofreiheit auf Probe also.
Von schnellen, endgültigen Varianten hält Schwedes wenig. Als Antwort auf einen Unfall mit toten Fußgängern wurde ein Radweg gebaut. „Ob das die beste Lösung ist, möchte ich bestreiten“, sagt er. Denn gerade in einer so engen Geschäftsstraße müssten Fußgänger Priorität haben.
Die Fußgänger ärgern sich derweil wie eh und je über lange Rotphasen an der am Unfallort wiedererrichteten Ampel. Von den Bildern, Kerzen und Blumen, die dort lange an die vier Opfer erinnerten, ist nur noch der dafür errichtete Holztrog übrig. Er ist leer. Dahinter sprießt ein Hagebuttenstrauch wild in den Septemberhimmel. Die Früchte sind leuchtend rot. Trotzig fast.
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