SPD nach den Sondierungsgesprächen: Der lange Weg zu Merkel
Lang hat's gedauert: Union und SPD bewegen sich jetzt auf die nächste Groko zu. Denn in der SPD lichten sich die Reihen der Skeptiker.
Union und SPD haben hart gekämpft um Steuern, das Rückkehrrecht von Teil- in Vollzeit, den Familiennachzug von Flüchtlingen. Die 39 Verhandler und Verhandlerinnen sind bis an ihre Grenzen gegangen und darüber hinaus. Das ist die Botschaft an den SPD Parteitag, der den austarierten Vertrag womöglich noch kippen kann: Wir, Schulz & Co, haben das Äußerste herausgeholt.
In der Nacht drang so gut wie nichts nach draußen – anders als bei den Jamaika-Verhandlungen. Auch als sich um vier Uhr morgens müde Minister mal die Beine vertraten, war von ihnen nichts zu erfahren. Die neue Verschwiegenheit soll Seriosität signalisieren. Mehr Wir, weniger Ego.
Um 8.33 Uhr ging es am Freitagmorgen plötzlich schnell: Eine SPD-Mitarbeiterin stürmte mit einem Stapel frisch ausgedruckter Papiere aus einem Büro im ersten Stock. Hält sie das fertige Sondierungspapier in den Händen? Im gleichen Moment meldete dpa: Der Durchbruch sei da, die Parteichefs hätten sich bereits geeinigt. Limousinen fahren vor.
SPD bringt keine Trophäen nach Hause
Im Willy-Brandt-Haus wird hektisch umgeplant. Das SPD-Präsidium, das um 9 Uhr über das Ergebnis diskutieren sollte, fällt erst mal aus. Im Flur vor der Küche im Willy-Brandt-Haus erteilt ein Mitarbeiter dem Servicepersonal Anweisungen. „Präsidium fällt aus, Vorstand um 11. À la carte machen wir heute nicht, Mittagessen wie immer.“ – „Ach, das ist ja gut!“, freut sich eine Kellnerin.
Das 28-seitige Papier ist schon ein halber Koalitionsvertrag – mit vielen exakten Zahlen. Er ist durchaus clever verhandelt. Wo keine Kompromisse möglich waren, bleibt alles, wie es ist. Etwa bei den Steuern. Vor ein paar Tagen war durchgesickert, dass der Spitzensteuersatz erst für Einkommen von 60.000 Euro für Singles gelten soll, nicht ab 54.000 Euro wie bisher. Die SPD forderte im Gegenzug, dass der Spitzensteuersatz von 42 auf 45 Prozent steigen müsse. Das wäre sinnvoll gewesen – eine Entlastung der oberen Mittelschicht, eine Belastung der Reichen. Doch die Union mauerte – aus Furcht vor der (sachlich falschen) Schlagzeile: „Merkel erhöht Steuern trotz Überschuss“. Nun bleibt die Einkommensteuer, wie sie ist.
Die SPD bringt, wie erwartet, keine Trophäe nach Hause. Keine Reichensteuer, keine Bürgerversicherung. Nichts, was, wie 2013 der Mindestlohn, als strahlendes Symbol taugen könnte. Dafür viel Kleineres, von einer bescheidenen Grundrente bis zur Aufhebung des Kooperationsverbots, falls es dafür eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat gibt. Es soll einen Rechtsanspruch auf Ganztagsschulen geben, mehr Bafög, gebührenfreie Kitas in der ganzen Republik. Und, monetär der wichtigste Punkt: Für das Gesundheitssystem zahlen Unternehmer wieder genauso viel wie Arbeitnehmer.
All das entspricht irgendwie dem etwas diffusen, kleinteiligen, symbolarmen SPD-Wahlkampf: nämlich das Leben für Normalverdiener etwas besser zu machen, ohne radikale Wechsel und ohne sich gar mit den Machteliten anzulegen.
12 von 13 haben zugestimmt
Bei Europa wird wortreich und unverbindlich ein „neuer Aufbruch“ beschworen. Martin Schulz hatte schon am Donnerstagmorgen munter erklärt, dass er sich mit Merkel in Sachen Europa „im Grunde einig“ sei. Keine hundert Meter entfernt hatte vor der SPD-Zentrale ein verlorenes Häuflein von Pro-EU-Demonstranten derweil Macron-Plakate in den Berliner Nieselregen gestreckt.
Reicht das, um die zögerliche SPD noch mal in die Große Koalition zu bugsieren? Im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale, arbeitet man am Freitag fiebrig an einem Papier, das die Skeptiker umstimmen soll: 60 Punkte, in denen sich die SPD durchgesetzt hat. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist optimistisch. Bei Bildung, Rente, Pflege und Investitionen gebe es eine sozialdemokraktische Handschrift. „Wir müssen die Alternativen realistisch darstellen, um den Parteitag zu überzeugen.“
Von den 13 SPD-Verhandlern haben nach der langen Nacht 12 zugestimmt. Nur Thorsten Schäfer-Gümbel enthielt sich. Das wichtigste Ja stammt von Michael Groschek, dem SPD-Chef in Nordrhein-Westfalen. Denn wenn die einflussreiche NRW-SPD, bislang Bastion der Unwilligen, irgendwie doch zerknirscht der Regierung mit Merkel zustimmt, dann ist die No-Groko-Bewegung geschlagen. Norbert Römer, SPD-Fraktionschef in Düsseldorf, lässt aus der Ferne mitteilen: „Ich kann nur allen raten, das Papier genau zu lesen und zu analysieren.“ Kürzlich hatte Römer noch erklärt, keiner in der NRW-Landtagsfraktion werde sich für die Neuauflage eines Bündnisses mit der Union erwärmen. Das Statement am Freitagvormittag klingt offen, unverbindlich – und nicht so, als würde er seinem Genossen Groschek in den Rücken fallen.
Erinnerung an 2013
Im SPD Vorstand zeigt sich das gleiche Bild: Fast vier Fünftel wollen jetzt mit der Union über eine Regierung verhandeln. Auch der moderate Parteilinke Ralf Stegner, der das 28-Seiten-Papier mit aushandelte, sagt: „Ich plädiere bei aller eigenen Skepsis gegenüber der Großen Koalition dafür, es zu versuchen.“ Ähnlich klingt Michael Miersch, Chef der Parlamentarischen Linken in der SPD-Fraktion: „Wir müssen auf dem Parteitag erklären, wie sich durch die beschlossenen Maßnahmen das Leben von vielen Einzelnen konkret verbessert.“
Marco Bülow, SPD-Abgeordneter aus Dortmund und entschiedener Gegner der Großen Koalition, sieht das anders. „Das Ergebnis ist so schlecht, dass die Basis vielleicht doch noch aufwacht.“ Das sei „kein Aufbruch, nur Stillstand“. Innenpolitisch segle die große Koalition auf Kurs der Union. Was Migration und Flüchtlinge angeht, Schlüsselthema für die CSU, ist das Ergebnis für die SPD in der Tat bescheiden.
Bülow glaubt, dass mindestens die Hälfte der GenossInnen gegen eine neue Regierung mit Merkel sind. Allerdings erinnert an diesem Freitag manches an das Szenario von 2013. Damals kündigten die Sozialdemokraten zwischen Rhein und Ruhr heftigen Widerstand gegen die Große Koalition an – und räumten diese Lager in Windeseile, als es ernst wurde.
Salamitaktik, die aufgeht
So schält sich nun ein Bild heraus, das für Martin Schulz, dessen politisches Überleben vom Gelingen der Koalition abhängt, erfreulich ist. Die Anti-Groko-Stimmung lässt sich machtpolitisch nicht bündeln. Kein einflussreicher SPD-Politiker stellt sich an die Spitze der Bewegung. Und die Skeptiker haben keine brauchbare Alternative anzubieten. Das beste Argument für die Groko ist, was auf „keine Groko“ folgt: Neuwahlen. „Die Kassen sind leer, die Beine sind schwer“, heißt es dazu an der SPD-Basis.
Bülow fürchtet, dass die Salamitaktik der SPD-Spitze nun aufgehen wird. Zuerst habe es die Ankündigung gegeben, ergebnisoffen mit der Union zu reden – de facto aber habe man nur über eine Regierung geredet. „Jetzt kommt: Wo es nicht reicht, werden wir in den Koalitionsverhandlungen nachbessern.“ Und am Ende stehe dann „die Basis vor der Alternative, zuzustimmen oder ohne Parteispitze in Neuwahlen ziehen zu müssen“, so Bülow.
Martin Schulz lobt am Freitagvormittag im Willy-Brandt-Haus „die hervorragenden Ergebnisse, die wir erzielt haben“ – allerdings ohne eins zu nennen. Angela Merkel, ganz Kanzlerin, lässt die Themen von der Digitalisierung in den Schulen bis zur Weltpolitik Revue passieren.
Und CSU-Chef Horst Seehofer setzt zu einem fast euphorischen Plädoyer an. Man werde das Rentenniveau bis 2025 garantieren, eine Grundrente einführen, die Weiterbildung von Arbeitnehmern verbessern und einen Rechtsanspruch auf Ganztagsschulen verankern – was bislang keine Herzenssache für die CSU war.
Giftpfeil in Watte gepackt
Es ist ein kurioser Moment: CSU-Mann Seehofer hält eine flammende, sozialdemokratische Rede, während Schulz staatsmännisch und sehr allgemein von Erneuerung und Vertrauen spricht.
Dabei hat Martin Schulz doch erklärt, dass die Merkel/Schulz-Regierung künftig einen „neuen Stil“ pflegen werde. Offener und auch mal konfrontativer. Auch SPD-Rechte klagten, dass SPD und Union von vielen als eine Partei wahrgenommen würden.
Doch von neuem Stil ist an diesem Freitag, der wohl Tag eins der neuen, alten Koalition sein soll, nichts zu spüren.
Im Gegenteil: Die Union kapert SPD-Politik, während die Sozialdemokraten seltsam unfähig scheinen, ihre übersichtlichen Erfolge wenigstens gefällig zu präsentieren.
„Wir sind hochzufrieden“ erklärt Seehofer vollmundig, und „brauchen keinen Parteitag, um Ja zu dieser Koalition zu sagen“. Das ist ein in Watte gepackter Giftpfeil. Wenn die SPD sich doch noch erdreistet, Nein sagt, ist sie schuld an Neuwahlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl