SPD-Spitzenkandidatin in Hessen: Faeser geht auf Attacke

Bundesinnenministerin Nancy Faeser lässt sich zur SPD-Spitzenkandidatin für die Hessenwahl wählen – und muss die europäische Asylreform rechtfertigen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser auf dem SPD-Parteitag in Hessen

Vom Ergebnis „überwältigt“: Nancy Faeser wird in Hessen zur hessischen SPD-Spitzenkandidatin gewählt Foto: Andreas Arnold, dpa

HANAU taz | Und dann schaltet Nancy Faeser auf Attacke. Gut 24 Jahre habe die CDU in Hessen regiert, ruft sie in den Saal. Die Partei habe Skandale und Spendenaffären verursacht, einen „sozialen Kahlschlag“ und eine „widerwärtige Doppelpasskampagne“. Das reiche. „Genug ist genug.“ Deshalb müsse in Hessen „mit dem heutigen Tag eine neue Ära beginnen“, appelliert Faeser. Eine Ära der SPD, angeführt von ihr selbst.

Faeser erklärt das am Samstag in der Hanauer Congresshalle, auf dem Landesparteitag der hessischen SPD. Im blauen Kleid und zu Katy Perrys „Roar“ tritt sie in den Saal, wird mit Standing Ovations begrüßt. Und der Parteitag wird die Bundesinnenministerin am Ende des Tages, wie nicht anders erwartet, zur Spitzenkandidatin für die Landtagswahl am 8. Oktober küren, mit großer Mehrheit: 94,4 Prozent.

Dabei waren die Vorzeichen vorher nicht ganz so klar. Bereits im Februar hatte Faeser ihre Spitzenkandidatur öffentlich gemacht. Als Hessin, die bis heute in Schwalbach bei Frankfurt/Main lebt und nach Berlin pendelt, sei das für sie eine „Herzensangelegenheit“. Doch die 52-Jährige will auch als Spitzenkandidatin weiter Bundesinnenministerin bleiben. Damit ist sie ab jetzt in einer Doppelrolle, bei der kaum zu trennen sein wird, wer da spricht: die Innenministerin oder die Wahlkämpferin? Ist beides zeitlich überhaupt zu schaffen? Und wird ihr schaden, dass sie – mit dem Segen von Kanzler Scholz – auch im Falle einer hessischen Niederlage Innenministerin bleiben will?

Dazu kommt nun auch noch die kontroverse Diskussion über die europäische Asylreform, die Faeser gerade mitverhandelte und die auch Sammellager an der EU-Außengrenze beinhaltet. Ausnahmen für Familien mit Kindern konnte Faeser nicht durchsetzen. „Beschämend“ und „ein einziges Unrecht“ sei diese, schimpfte Juso-Chefin Jessica Rosenthal. Die frühere hessische SPD-Chefin und Beinah-Ministerpräsidentin Andrea Ypsilanti trat aus Protest gar aus der Partei aus: Der Beschluss werde „noch schlimmeres Elend zur Folge haben“. Er sei „ein Kotau vor den Rechtsextremisten“.

Protest vor der Parteitagshalle

Am Samstagmorgen findet auch vor der SPD-Parteitagshalle eine kleine Protestkundgebung statt. Vor „Elendslagern“ an der EU-Außengrenze wird dort gewarnt. „Nancy Seehofer?“, fragt ein Schild. Zur gleichen Zeit streiten auch die Grünen auf einem Länderrat über die Asylreform, ebenfalls in Hessen.

Die hessischen Jusos hatte Faeser bereits im Vorfeld mit einer Videoschalte zu besänftigen versucht. Auch am Samstag geht sie gleich nach Ankunft auf dem Parteitag auf die Parteijugend zu, bittet um Zusammenhalt. „Nur gemeinsam“ werde man bei der Landtagswahl erfolgreich sein.

Auf der Parteitagsbühne sagt Faeser zu der Asylreform aber zunächst keinen Satz. Sie eröffnet mit ihrer Rede stattdessen den Wahlkampf. Und wiederholt im Saal ihren Satz, dass ihr Herz in Hessen schlage. „Ja, wo denn sonst?“ Seit ihrer Geburt lebt Faeser in Hessen, saß hier lange Jahre im Landtag und in Kommunalparlamenten.

Der CDU, die mit Ministerpräsident Boris Rhein in die Wahl geht, wirft sie Untätigkeit und bloße Sonntagsreden vor. Die CDU habe in ihren 24 Regierungsjahren „das Leben von so vielen Menschen in Hessen anstrengender, ärmer und schlechter gemacht hat“.

Faeser hält dagegen, wofür sie in den anderthalb Jahren als Bundesinnenministerin sorgte: Sie habe die Ruhegehaltsfähigkeit der Polizeizulage wieder eingeführt, einen erleichterten Zuzug von Fachkräften und doppelte Staatsbürgerschaften auf den Weg gebracht. „Wir müssen handeln. Und ich will handeln.“

Für Hessen betont Faeser, dass für sie der Kampf gegen den Fachkräftemangel „an oberster Stelle“ stehe. Alle Schü­le­r:in­nen bräuchten einen Abschluss, Meisterbriefe müssten kostenfrei sein, es brauche eine bessere Gesundheitsversorgung und ein Zweckentfremdungsgesetz – sozialdemokratische Klassiker. Dazu verspricht Faeser noch eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, sobald sie im Amt sei.

Vor allem aber kantet sie gegen die Union: Deren populistische Töne seien „verantwortungslos, gefährlich und auch noch dumm“. In Hessen habe die CDU bei der Aufklärung des NSU-Terrors versagt, nach dem Hanau-Attentat keine passenden Worte gefunden. „Allein das ist ein Grund, sie abzuwählen.“ Sie dagegen habe als Bundesinnenministerin von Anfang an den Rechtsextremismus als größtes Problem bezeichnet, erinnert Faeser. Diesen Kampf würde sie als Ministerpräsidentin „konsequent weiterführen“.

Der Kanzler schickt einen Videogruß

Im Saal kommt das an. Immer wieder wird Faesers Rede von Applaus unterbrochen, gerade bei den Ansagen gegen rechts. Den Parteitag trägt ein Gefühl, dass im Oktober wirklich etwas gehen könnte. Das befeuert auch der angereiste SPD-Parteichef Lars Klingbeil, der erklärt, „Nancy ist das Beste, was Hessen passieren kann“. Er habe „ein gutes Gefühl“, dass die „leere“ schwarz-grüne Regierung abgelöst werden könne. Auch Kanzler Olaf Scholz schickt ein Videostatement, in dem er Faeser als „fröhlich, entschieden, mit Weitblick“ preist.

Nur: In Umfragen liegt die CDU von Boris Rhein immer noch deutlich vorn, bei knapp 30 Prozent. Die SPD landet rund sieben Prozentpunkte dahinter – immerhin noch vor den mitregierenden Grünen, die mit Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir in den Wahlkampf gehen. Faeser könnte indes auch als Zweitplatzierte ein Regierungsbündnis schmieden – was bei den Differenzen gerade zwischen den hessischen Grünen und der FDP indes nicht einfach wird.

Faeser beschwört in Hanau aber, dass sie „in Schlagweite“ zur CDU sei. Spätestens in ein paar Wochen würden im Wahlkampf Bundesthemen in den Hintergrund rücken und Landesthemen nach vorn. Zu den Grünen verliert Faeser dagegen kein einziges Wort. Ihr Plan ist klar: ein Zweikampf mit der CDU von Boris Rhein. Und der SPD-Parteitag ebnet dafür den Weg. Faeser zeigt sich von den 94,4 Prozent für sie „überwältigt“ – und bekommt als Dank ein Bembel und Ahle Wurst.

Jusos protestieren gegen Asylreform

Dann aber kommt doch noch in der Halle das Thema europäische Asylreform auf. Mehrere Jusos treten mit „Not my Europe“-Shirts ans Pult, kritisieren die Reform als „faulen Kompromiss“. „Kein Mensch, kein Kind gehört in ein Internierungslager“, schimpft eine junge Delegierte. Menschenrechte dürften nicht untergraben werden. Das widerspreche allen SPD-Prinzipien.

Andere Sozialdemokraten halten dagegen. SPD-Landrat Wolfgang Schuster erklärt, die Kapazitäten der Kommunen, um Geflüchtete aufzunehmen, sei „zuende“. Die Asylreform sei ein Kompromiss, der die Gesellschaft zusammenhalte. Eine Richterin und Sozialdemokratin erklärt, das bisherige Dublin-System sei gescheitert und habe dringend die Reform gebraucht.

Auch Hanaus SPD-Oberbürgermeister Claus Kaminsky dankt aus „kommunaler Betroffenheit“ Faeser. Jahrelange sei darüber erfolglos verhandelt worden, nun gebe es „endlich eine Lösung“. Beschlossen wird am Ende ein Antrag des Landesvorstands: Die derzeitige Lage an der EU-Grenze sei „nicht akzeptabel“ und die Reform „besser als der Status Quo“, heißt es darin. Man werde nun im weiteren Verfahren für humanitäre Standards kämpfen.

Auch Nancy Faeser tritt noch einmal spontan ans Pult. Das gemeinsame Ziel sei doch, dass das Sterben im Mittelmeer aufhöre, erklärt sie. Ihr sei immer wichtig gewesen, dass das Individualrecht auf Asyl nicht angetastet werde. Faeser erntet Applaus.

Dann lobt die frisch gekürte Spitzenkandidatin noch, sie sei stolz, „dass wir so starke Jusos haben, die sich für die Belange der Geflüchteten einsetzen“. „Ihr habt das Herz auf dem rechten Fleck.“ Die Angesprochen hatten bereits zuvor versichert, dass sie – bei aller Kritik – Faeser im Wahlkampf voll unterstützen werden.

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