SPD-Chef zu Waffenlieferungen: „Es gibt keine roten Linien“
Lars Klingbeil verteidigt Olaf Scholz’ Haltung bei den Leopard-2-Panzern. Eine Eskalation des Kriegs durch deren Lieferung hält er für unwahrscheinlich.
taz: Herr Klingbeil, Polen hat einen Antrag auf die Ausfuhr von Leopard-Panzern an die Ukraine gestellt. Kann Olaf Scholz noch nein sagen?
Lars Klingbeil: Die Bundesregierung wird darüber entscheiden. Da gibt es klare Verfahren.
Will die SPD denn Kampfpanzer an die Ukraine liefern?
Die Haltung der SPD bleibt: Es gibt keine roten Linien, was die Lieferung von Waffen angeht. Aber: Wir besprechen uns mit unseren Partnern und brechen nicht aus internationalen Bündnissen aus.
Deutschland will erst Kampfpanzer liefern, wenn die USA eigene Abrams-Panzer zur Verfügung stellen …
Dieses Junktim kenne ich nicht. Aber wir sind sehr froh, dass wir die Amerikaner an unserer Seite haben. Jeder, der behauptet, wir könnten heute ohne die USA unsere Sicherheit gewährleisten, irrt.
Deutschland steht weniger an der Seite der USA als dahinter. Zuerst sollen die USA Waffen liefern, dann folgt Deutschland. So war es bei Schützenpanzern und Patriots, bei den Kampfpanzern scheint es genauso zu sein. Reicht das?
Wenn ich mir anschaue, welche Waffensysteme wir bereits liefern, dann kann man wirklich nicht behaupten, dass wir uns hinter irgendwem verstecken. Wir sind mit den USA und Großbritannien der drittgrößte Unterstützer der Ukraine. Scholz und Biden stimmen sich sehr eng ab. In Ramstein haben wir zusätzlich militärische Unterstützung in Höhe von 1,1 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Die Zeit der Zurückhaltung ist seit dem 24. Februar definitiv vorbei.
44, ist seit Dezember 2021 Vorsitzender der SPD. Davor war er Generalsekretär der Partei sowie stellvertretender Vorsitzender der Jusos.
Warum zögert Scholz dann bei der Lieferung von Leopard-Panzer?
Es geht darum, abzuwägen. Es ärgert mich wahnsinnig, dass diese sorgfältige Abwägung in der verkürzten Debatte als ein Abrücken von der Ukraine dargestellt wird. Dem ist nicht so. Natürlich muss sich der Bundeskanzler die Frage stellen, welche Konsequenzen die Lieferung von Kampfpanzern haben kann. Das erwarte ich sogar von einem Regierungschef.
Halten Sie eine Eskalation des Krieges durch die Lieferung von Kampfpanzern für wahrscheinlich?
Nein, das halte ich für unwahrscheinlich. Aber es ist richtig, diese Frage im Bundeskanzleramt zu durchdenken. Genauso richtig ist es, dass kein Land alleine vorprescht. In den USA gibt es übrigens gerade ähnliche Debatten wie bei uns.
Rolf Mützenich hat im Gespräch mit der taz gesagt, er befürchte jeden Tag, dass der Krieg zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato eskaliert. Teilen Sie diese Befürchtung?
Ich habe keine Angst. Wir lassen uns von Putin nicht einschüchtern. Olaf Scholz hat durch seinen Besuch in Peking und durch sein Agieren zusammen mit Joe Biden auf dem G20-Gipfel dazu beigetragen, dass die atomare Bedrohung massiv abgenommen hat.
Warum?
Putin hat verstanden, dass er wichtige Bündnispartner wie die Chinesen verlieren würde, wenn er diese Grenze überschreitet. Olaf Scholz trägt als Bundeskanzler die Verantwortung in dieser historischen Situation – und nicht jene, die ständig auf Twitter oder in Talkshows kluge Ratschläge geben. Und noch eine zweite Sache möchte ich mit Ihnen teilen: Ich stelle immer wieder fest, dass im politischen Berlin ganz andere Diskussionen geführt werden als im Rest des Landes. Bei Veranstaltungen wird die Furcht, in den Krieg verwickelt zu werden, häufiger an mich herangetragen als die Forderung, noch mehr Waffen zu liefern. Und dennoch bin ich dafür, die Ukraine weiter mit Waffen zu unterstützen. Die Ukraine braucht Waffen, und auch Geländegewinne, für die Verhandlungen, die irgendwann kommen werden.
Sollte Deutschland die ukrainische Armee bei der Rückeroberung der Krim unterstützen?
Wir unterstützen ja mit der Lieferung von Waffen, damit die Ukraine ihre territoriale Integrität verteidigen kann. Russland hat auf ukrainischem Boden nichts verloren. Putin muss seine Soldaten abziehen. Das muss das Ziel sein. Die Entscheidung, ab wann verhandelt wird, fällt aber die Ukraine.
Nicht der Westen?
Nein.
Was heißt das für die militärische Unterstützung. Liefert Deutschland irgendwann auch Kampfflugzeuge?
Was der Bundeskanzler mit den internationalen Partnern abspricht, wird die SPD mittragen. Olaf Scholz hat wie viele andere aber schon sehr früh ausgeschlossen, dass Kampfflugzeuge geliefert werden.
Also doch eine rote Linie – keine Kampfflugzeuge?
Gerade steht die Entscheidung zu Kampfpanzern an.
Deutschland soll international eine Führungsrolle übernehmen. Aber nicht bei der Lieferung von Kampfpanzern. Ist das kein Widerspruch?
Nein. Die Frage der Führungsrolle macht sich nicht an einem Waffensystem fest. Wir sind der drittgrößte Lieferant von Waffen für die Ukraine. Und der größte europäische Geldgeber. Olaf Scholz ist trotz Kritik nach China gefahren. Er hat den G20-Gipfel mit Joe Biden so organisiert, dass die G20 sich gegen Russland stellen. Er ist nach Kyjiw gefahren und hat dort gefordert, dass die Ukraine in die EU aufgenommen wird, und für den Beschluss im Europäischen Rat gesorgt. Das ist Führung.
Soll Berlin die Aufnahme der Ukraine in die EU vorantreiben?
Bei der politischen Begleitung kann Deutschland in der EU die Führung übernehmen. Und dafür sorgen, dass dieser Beitritt durch die Brüsseler Bürokratie nicht auf die lange Bank geschoben wird. Klar ist aber auch, es gibt klare Kriterien für einen Beitritt.
Der IWF hat 2021 Zahlungen an die Ukraine wegen mangelnder Reformen storniert. Der EU-Rechnungshof hat 2021 festgestellt, dass zu wenig gegen Korruption passiere. Ist es nicht wohlfeil zu sagen, die Brüsseler Bürokratie sei das Problem?
Die Beitrittsverhandlungen müssen nach diesen klaren Kriterien geführt werden. Es darf keine Ausnahmen geben. Aber wir müssen auch begreifen, dass auch China und Russland Akteure auf dem Balkan sind. Wir müssen Geopolitik wieder ernst nehmen und daher das Interesse haben, den Westbalkan, die Ukraine, Moldau, auch Georgien an uns zu binden. Das muss Deutschland politisch federführend begleiten. Bis hin zur Mitgliedschaft in der EU. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Was war der schlimmste Fehler der SPD in der Russlandpolitik?
Dass wir Willy Brandts richtiges Konzept „Wandel durch Annäherung“ zu „Wandel durch Handel“ haben verkommen lassen. Wir haben einfach gehofft, dass wir uns auf Putin verlassen können. Das gilt übrigens nicht nur für die SPD. Das ist mit dem 24. Februar brutal gescheitert.
Jetzt setzt die SPD auf komplette Entkopplung?
Die hat mit dem 24. Februar faktisch stattgefunden. Wir haben uns energiepolitisch komplett entkoppelt. Es geht jetzt darum, in dieser historischen Zeit Sicherheit in Europa vor Russland zu organisieren. Deshalb die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, der Fokus auf die Landes- und Bündnisverteidigung, das 2-Prozent-Ziel und die stärkere Truppenpräsenz der Bundeswehr in Litauen.
In der SPD-Selbstkritik fehlen die Verträge Minsk I und II, also die Versuche von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, nach der Krim-Besetzung 2014 einen friedlichen Kompromiss zu finden. Waren das Fehler?
Es war nie ein Fehler zu versuchen, eine diplomatische Lösung zu finden. Der Fehler war, dass wir uns nicht auf das Szenario vorbereitet haben, das am 24. Februar 2022 eintrat.
Gehen die Investitionen in die Bundeswehr jetzt schnell genug?
Wir brauchen mehr Tempo bei Rüstungsprozessen. Es dauert zu lange, die 100 Milliarden Euro Sondervermögen auszugeben. Produktionskapazitäten wurden abgebaut und in der Rüstungsindustrie dauert alles sehr lange. In Wilhelmshaven haben wir ein LNG-Terminal in 200 Tagen hochgezogen. Diese neue Deutschland-Geschwindigkeit brauchen wir jetzt auch im Rüstungsbereich. Dafür müssen Politik, Verwaltung, Industrie an einem Tisch über Investitionsgarantien und Produktionsstätten reden. Einen Pakt für die Sicherheit schmieden, damit das Geld schnell bei der Bundeswehr ankommt.
Sie fordern mehr gesellschaftliche Akzeptanz für die Bundeswehr. Was heißt das? Eine Militärparade Unter den Linden?
Das werde ich nicht vorschlagen.
Also mehr Uniformen im Alltag?
Für mich ist die Uniform im Alltag normal. Ich komme aus Munster, dem größten Heeresstandort, da sehen Sie überall Uniformen. Aber wenn mir Soldatinnen und Soldaten berichten, dass sie in Uniform in Zügen angepöbelt und bespuckt werden, dann ist das nicht akzeptabel.
Es ist mit und ohne Uniform nicht akzeptabel, bespuckt zu werden …
Natürlich! Aber die Person wurde angespuckt, weil sie Soldat ist. Das geht nicht. Ich unterstütze das öffentliche Gelöbnis vor dem Reichstag. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, deshalb fände ich es wichtig, dass wir über Bundeswehrmandate nicht um 21.30 Uhr im Bundestag diskutieren, sondern in der Primetime. Aber insgesamt ist die öffentliche Akzeptanz der Bundeswehr seit dem 24. Februar gewachsen. Der Krieg ist wieder Thema bei den Menschen und damit auch die Bundeswehr.
Brauchen wir für mehr Normalität zwischen Militär und Gesellschaft die Wehrpflicht?
Nein, ich halte nichts von einem Zwangsdienst. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber ist. Und ja, wir brauchen einen selbstverständlichen Umgang in unserer Gesellschaft mit unserer Bundeswehr.
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