SPD-Basis stimmt über Groko-Vertrag ab: Das Prinzip Hoffnung
Für die SPD-Spitze geht es beim Basisvotum um viel. Eine Reise in eine Partei, in der die da oben die da unten nicht verstehen.
Die Szene sagt viel über die SPD. Vorne führen, wie früher, die Abgeordneten das Wort. Die Basis soll zuhören. Eigentlich ist hier in Witten, im Süden des Ruhrgebiets, die SPD-Welt noch in Ordnung. Seit 1949 ist die Stadt fest in sozialdemokratischer Hand. Eigentlich.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Auf den Plätzen im Dunkeln kommt die Pro-Groko-Werbung nicht so gut an. „Die verarschen uns“, brüllt ein Genosse. Ein anderer ruft: „Die Basis sind die, die ihr nicht sehen könnt.“ Groß wirkt angefressen. So harsche Kritik scheint er nicht gewohnt zu sein. Der lokale SPD-Chef versucht zu beschwichtigen. Wer unbedingt etwas sagen wolle, der könne schnell auf die Bühne kommen. Es klingt generös.Etwas hilflos wirkt auch der Auftritt des örtlichen Bundestagsabgeordneten Ralf Kapschack. Er führt das Königsargument der Unterstützer der Groko ins Feld – nämlich, dass bei einem Nein zum Koalitionsvertrag ein Desaster drohe. Bei Neuwahlen bekomme die SPD womöglich noch nicht mal mehr 15 Prozent. Und überhaupt: „In der Opposition werden wir nur streiten“, warnt Kapschack. „Müssen wir doch auch“, ruft einer aus dem Dunkel. Kapschack flüchtet sich in Sarkasmus. Der ganze Widerstand gegen die Große Koalition sei nichts als „Karneval“. Als ein Juso von Groß fordert, die Fraktion solle für bessere Löhne sorgen, statt bloß die Entlastung der Städte bei der Kinderbetreuung zu loben, schießt der genervt zurück. Das sei „Populismus“.
Die einen verstehen die anderen nicht mehr, die Nerven liegen blank, die SPD steht vor einem Abgrund. In Umfragen ist sie auf 16 Prozent abgestürzt, gefährlich nahe bei der AfD. Über das Schicksal der Partei entscheiden in diesen Tagen 463.723 Parteimitglieder. Sie stimmen darüber ab, ob die SPD in eine Große Koalition mit der Union eintritt. Das Ergebnis wird am Sonntagmorgen in einer Woche vorliegen. Es wird knapp, fürchten viele Spitzenleute in Berlin, viel knapper als 2013, als 76 Prozent der Mitglieder mit Ja votierten. Und wenn die Basis die Groko platzen ließe, glauben sie, stürzt die SPD vollends ins Chaos.
Aber hat die SPD-Spitze nicht längst die Kontrolle verloren?
Schäfer-Gümbel im Dauereinsatz in der Republik
Thorsten Schäfer-Gümbel hängt das Wochenende noch in den Knochen. Der SPD-Vizevorsitzende hetzt derzeit durch die Republik, um für die Große Koalition zu werben. Freitag: Berlin, Recklinghausen, Wegberg. Samstag: Pfungstadt, Aßlar, Lich. Sonntag: Heidenheim, Oberursel, Darmstadt. 2.000 Kilometer, wenig Schlaf, viel Kaffee. Bei mehreren Veranstaltungen hat sich Schäfer-Gümbel mit Juso-Chef Kevin Kühnert gestritten, dem Anführer der No-Groko-Revolte. Beide finden sich sympathisch, aber politisch sind sie gerade erbitterte Gegner.
Jetzt, am Montagvormittag, sitzt Schäfer-Gümbel mit müden Augen im Café Einstein an der Berliner Kurfürstenstraße. Parkett, gestärkte Tischdecken, Schwarzweißfotos, die Gediegenheit des alten Westberlin. Schäfer-Gümbel, 48, Spitzname: TSG, praktischer Kurzhaarschnitt, schwarze Brille mit dicken Gläsern, ist ein SPD-Linker, aber einer von der pragmatischen Sorte. Sie schätzen ihn in der SPD wegen seiner Besonnenheit. Wie der Rest der Spitze wirbt er für den Koalitionsvertrag, er hat selbst das Kapitel zu Verkehr und Infrastruktur mit verhandelt.
Andrea Nahles
Normalerweise vermeidet Schäfer-Gümbel harsche Zuspitzungen. Doch wenn es um die Chaostage in der SPD geht, wird er deutlich. Unmittelbar nach den Koalitionsverhandlungen tat die SPD ja alles, um die eigenen Erfolge vergessen zu machen: Schulz kündigte an, den Parteivorsitz an Nahles abzugeben – und ins Auswärtige Amt zu wechseln. Noch-Außenminister Gabriel schickte seine Tochter vor, um den „Mann mit den Haaren im Gesicht“ zu beleidigen. Auf Schulz’ Ankündigung folgte ein innerparteiliche Aufstand. Das Willy-Brandt-Haus wurde mit wütenden E-Mails bombardiert, fassungslose Genossen stritten in Sitzungen in Landes- und Bezirksverbänden. Wenig später schmiss Schulz hin.
Dass der SPD-Vorstand dachte, Schulz könne neben einer Parteichefin Nahles Außenminister werden, sei eine „kollektive Fehleinschätzung“ gewesen, sagt Schäfer-Gümbel. Das stimmt, aber wie konnte es dazu kommen? Versteht die Parteielite nicht mehr, was die unten denken?
Schäfer-Gümbel antwortet schnell, den Vorwurf hat er schon oft gehört: „Die Probleme der SPD lassen sich nicht auf ‚oben und unten‘ reduzieren.“ Unterschiedliche Ansichten gebe es nämlich auch im Vorstand, aber Ergebnisse würden gemeinsam nach außen getragen. Das stimmt, einerseits. Einige in der SPD-Spitze hatten eindringlich gewarnt, dass Schulz’ Ticket ins Außenamt schlecht ankommen würde.
Andererseits häufen sich Belege, dass die SPD-Spitze nicht mehr weiß, wie die Basis tickt. Nach der Schulz-Causa scheiterte Andrea Nahles mit ihrem Plan, den Parteivorsitz sofort kommissarisch zu übernehmen. Wieder regte sich Widerstand in der Partei. Und die SPD hat kein Oben-unten-Problem?
Wie stimmen die Karteileichen ab?
Wenn Spitzengenossen wie Schäfer-Gümbel begründen, warum die SPD Ja zur Groko sagen wird, erzählen sie gern über ihre Gespräche mit der Basis. Dass ihre Argumente ziehen. Auch die Skeptiker würden anerkennen, dass die SPD im Koalitionsvertrag viel erreicht hat. Doch es bleibt Unsicherheit. Denn entscheiden wird die schweigende Mehrheit, die sich nie im Ortsverein blicken lässt, deren Mailadresse das Willy-Brandt-Haus nicht hat, deren tägliches Leben wenig mit dem Parteibuch zu tun hat, das irgendwo in einer Schublade liegt. Auch die desaströsen 16 Prozent in den Umfragen können ja beides sein. Frust über die neue Große Koalition – oder Frust über ihren holperigen Start. Wahrscheinlich, das ist das Schlimme, stimmt beides.
Ulrike Andreas aus Waltrop im nördlichen Ruhrgebiet ist entsetzt über die Nachrichten aus Berlin. „Chaotisch und unwürdig“ findet die 61-Jährige den Personalpoker. Ihr Mann Jürgen, der unter seiner Funktionsjacke ein rotes SPD-Shirt trägt, hält das Ganze für „eine Katastrophe“. Das Paar ist am Aschermittwoch nach Schwerte gekommen, um den neuen Star der SPD zu sehen: Andrea Nahles, die SPD-Fraktionsvorsitzende, die auch Parteivorsitzende werden will. Nahles soll in der Gaststätte Freischütz in einem hohen Saal, der von Kronleuchtern mit Leuchtkugeln aus Milchglas in ein warmes Licht getaucht wird, die Depression vertreiben. Hier, in der viel beschworenen Herzkammer der Sozialdemokratie, in Nordrhein-Westfalen, wo knapp ein Viertel aller GenossInnen zu Hause sind.
Immerhin 400 Sozialdemokraten sind gekommen. Der Applaus für Nahles, die erste Frau an der Fraktionsspitze, ist verhalten. Viele ältere Herren tragen weiße Hemden zum dunklen Jackett, viele Damen Blazer. Schwarz, Dunkelgrau, Dunkelblau sind die vorherrschenden Farben – dazwischen manche mit dem SPD-Rot. Auf den Tischen stehen Halbliter-Bierkrüge oder Weinschorlen. Die Atmosphäre changiert zwischen Bierzelt und Bankett.
Betretenes Schweigen bei Groschek in Schwerte
Michael Groschek, 61, der Chef der SPD in Nordrhein-Westfalen, den hier alle „Mike“ nennen, versucht die gedämpfte Stimmung aufzuhellen. Die SPD könne bei Kommunal-, Europa-, Bundes- und Landtagswahlen siegen, wenn die Partei nur zusammenstehe und sich nicht im Streit um die Groko zerlege. Einheit, Geschlossenheit, das Übliche. Als Groschek sich dann ausmalt, wie er im Jahr 2022 vor der Düsseldorfer Staatskanzlei stehe und „Ihr könnt nach Hause gehen“ in Richtung CDU singe, schauen viele betreten zu Boden. Denn Groschek singt wirklich.
Auch Nahles hat keinen guten Tag. Sie ist schwer erkältet, krächzt, will aber nicht leise reden. Die 47-jährige, von der das Schicksal der SPD abhängt wie von niemand sonst, schaltet in ihren gewohnten Angriffssound. „Die Göttinnen-Dämmerung hat bei der CDU doch längst begonnen“, ruft Nahles heiser. Fast pflichtschuldig wirbt sie für den Koalitionsvertrag mit der Union. Die Einschränkung der prekären Jobs, die zusätzlichen Pflegekräfte, der soziale Arbeitsmarkt: all das seien doch sozialdemokratische Erfolge.
Nahles versucht, den Glauben an Glück durch Arbeit, den viele der über sechzigjährigen GenossInnen verinnerlicht haben, zu bedienen: „Die Leute bekommen Arbeit, nicht irgendeine Maßnahme“, ruft sie. „Arbeit, Arbeit, Arbeit – das ist Würde.“ Der Applaus ist dünn. Viele gehen danach eilig zum Ausgang. Andere starren auf die Bierkrüge vor sich. Nichts ist leicht in der SPD derzeit.
Viele Genossen hassen die Große Koalition, finden aber die Alternative, Neuwahlen, noch fürchterlicher. Regieren aus Verzweiflung, schlimmer geht es kaum. Am Samstag in einer Woche werden 120 Freiwillige, ausgerüstet mit zwei Hochleistungsschlitzmaschinen im Willy-Brandt-Haus rund 400.000 Briefe auszählen. Ein teures Unterfangen, eineinhalb Millionen Euro.
Nancy Böhning organisiert die Abstimmung
Nancy Böhning, 38, die seit ein paar Wochen Bundesgeschäftsführerin der Partei ist, organisiert die Wahl und die Auszählung, verschickt Mails an die Basis. Schwarzer Rolli, hochgesteckte blonde Haare, energische Stimme. „Ich glaube, dass die Mehrheit Ja zum Koalitionsvertrag sagen wird“, sagt sie. Was, wenn nicht – daran will in der SPD-Spitze derzeit niemand auch nur denken. Das Problem: Das Willy-Brandt-Haus hat nur von gut der Hälfte der Parteimitglieder Mail-Adressen. Rund 240.000 GenossInnen haben von der SPD-Parteizentrale eine Mail mit einem Text des SPD-Verhandungsteams bekommen. „Wir empfehlen Dir aus Überzeugung, mit JA zu stimmen“, steht darin. Unterzeichnet hat noch Martin Schulz.
Der Rest ist auch für die Kampagnenmacher, die die SPD von der Groko überzeugen wollen, nicht leicht erreichbar. „Die Unterstützung für die Groko durch das Willy-Brandt-Haus wurde 2013 als zu offensiv empfunden“, sagt Nancy Böhning in ihrem Büro hoch über Berlin-Kreuzberg. 2013 schaltete die SPD-Führung sogar in der Bild-Zeitung eine Anzeige für die Groko. Jetzt hat sich in der SPD die Erkenntnis durchgesetzt, dass man von einer Debatte nicht reden kann, wenn es nur Pro-Stimmen gibt.
So kommt im Parteiblatt Vorwärts auch Juso-Chef Kevin Kühnert zu Wort – in einem Streitgespräch mit SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Daneben wird allerdings wie gehabt mit Nahles-Interview und Anzeigen der SPD-Bundestagsfraktion ordentlich die Trommel für die Linie des Parteivorstands gerührt. Und: Es wäre ja auch befremdlich, wenn Kühnert, der in allen Fernsehkanälen und den Zeitungen präsent ist, nur im SPD-Parteiblatt persona non grata wäre.
In der SPD herrscht eine seltsame Mixtur aus Alternativbewegungs-Moral und kernigen Top-down-Ansagen. Zur Parteikultur gehört das Basta, und ein eiserner Paternalismus, der noch aus der Ära der Auseinandersetzung mit Nazis und Stalinisten stammt. Die Mischung aus autoritärem Arbeiterbewegungszentralismus und Basisdemokratie wirkt oft schwergängig. Und widersprüchlich. Die Basis darf über die Regierungsbeteiligung abstimmen. Aber die Führung versendet mit den Wahlzetteln sicherheitshalber eine Handreichung, wie man abstimmen soll.
„Keine einseitige Kampagne gefahren“
„Mit der SPD in der Regierungsverantwortung können wir in den nächsten Jahren viel bewegen“, heißt es in einem Schreiben der Verhandlungskommission, der mit dem Wahlzettel an die Parteimitglieder versandt wurde. Die Jusos finden das unfair, bevormundend, zumindest überflüssig.
„Der Parteivorstand wirbt für die Inhalte des Koalitionsvertrages, aber wir fahren keine einseitige Kampagne“, sagt Böhning. Ihr Zauberwort lautet Kulturwandel. Der soll die Kluft zwischen dem Anspruch, dass die Basis das Sagen haben darf, und jenem, dass die Führung am Ende bestimmt, irgendwie überbrücken. Kulturwandel, so wie Böhning es sich vorstellt, bedeutet, dass die Groko-Gegner bei Regionalkonferenzen präsent sein dürfen und die Juso-Landesvorsitzenden auf dem Podium sitzen. Ein bisschen mehr Demokratie wagen.
Thorsten Schäfer-Gümbel
Dass es mit dem Kulturwandel nicht so ganz einfach ist, zeigte indes die Informationspolitik des Willy-Brandt-Hauses nach den Sondierungen. Kaum hatte Martin Schulz das Sondierungspapier als „hervorragend“ gelobt, mailte die Parteizentrale 60 Punkte an die GenossInnen, bei denen sich die SPD durchgesetzt hatte. „Diesen Duktus“, sagt Böhning selbstkritisch, „haben manche für zu euphorisch gehalten.“ Infos, die auch zeigten, wo die SPD schwierige „Kompromisse hat machen müssen“, kämen bei der Basis sowieso besser an.
Böhning kommt aus Ostdeutschland und hat eine typische Parteikarriere gemacht. Studium, Referentin bei Abgeordneten, dann Büroleiterin bei Manuela Schwesig und Katarina Barley. Dass sie den Job der Bundesgeschäftsführerin bekam, verdankt sie dem Ungeschick von Martin Schulz. Der wollte die Ex-Jusochefin Johanna Uekermann für den Posten. Als die amtierende Bundesgeschäftsführerin Juliane Seifert das mitbekam, kündigte sie, Uekermann wollte sowieso nicht. Es ist viel schiefgegangen bei der SPD.
Böhning hat sich für Gleichstellung engagiert. Vielleicht sind Frauen wie sie die Zukunft der SPD, wenn die noch eine hat. Denn nicht nur die holprigen Lockerungsübungen der Parteizentrale in Sachen innerparteilicher Demokratie sind anders als 2013. Vor fünf Jahren hatte die SPD bei der Wahl ein paar Prozent gewonnen und die Hoffnung, sie würde in der Regierung Punkte machen. Damals waren sogar die Jusos gespalten, ob Regieren richtig sei. Jetzt ist die Müdigkeit, noch mal vier Jahre mit der Union regieren zu müssen, viel größer als 2013.
Wie die Basis tickt, ist, anders als vor gut vier Jahren, wirklich offen. Entscheiden werden nicht die Aktiven, die zu den Regionalkonferenzen gehen, sondern die rund 400.000 SPD-Karteileichen. Eigentlich gelten die Inaktiven als konservativer und staatstragender als die oft linksliberal denkenden Delegierten auf Parteitagen. Doch diesmal ist deren Stimmung, vor allem seit dem Abgang von Martin Schulz, allen Beteiligten ein Rätsel. Wie das Hin und Her um die Groko, wie das komplette Versagen der SPD-Spitze, die Schulz gewähren ließ, bei den Parteileichen ankommt, weiß auch in der Parteispitze niemand so genau. An der Basis, so ein Mitarbeiter des Willy-Brandt-Hauses, „herrscht Kopfschütteln“.
Am Sonntagmorgen, den 4. März, wird feststehen, ob die Republik eine solide Regierung bekommt hat – oder ob erst einmal eine Merkel-Minderheitsregierung und dann Neuwahlen anstehen. Die SPD-Spitze glaubt fest an ihren Erfolg. Wegen Europa, wegen des guten Koalitionsvertrages. Aber auch beim Brexit, bei Trump, bei den Jamaika-Verhandlungen waren sich viele sicher, wie es ausgeht. Als Jamaika vor zwei Monaten implodierte, war die SPD-Spitze ratlos, überrascht, überfordert. Sie hatte keinen Plan B und wirkte tagelang orientierungslos.
Was passiert, wenn die Basis gegen die Groko stimmt? „Dann ist die SPD, dann ist das ganze Land in einer schwierigen Situation“, sagt Schäfer-Gümbel knapp. Mehr nicht. Die SPD-Spitze hat keinen Plan B. Schon wieder nicht.
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