Russland und seine Nachbarn: Kontinuität der Manipulation
Im Westen setzte man viele Jahre auf Dialog mit Putin. Dagegen warnten Menschen im Baltikum schon lange vor Russlands Großmachtfantasien.
„Niemand hat vor, die Ukraine anzugreifen“, sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow am 25. Februar in einer Ansprache. Aber man müsse den „Genozid des Naziregimes“ in der Ukraine beenden. Beim Zuhören schüttelt man sich vor Fassungslosigkeit. Man möchte meinen, dass die alternativen Fakten eine hässliche Ausgeburt der Trump-Regierungszeit gewesen seien. Hier im Westen schreit man reflexhaft „Huch!“ und schmeißt mit Ferndiagnosen wie „geistesgestört“, „größenwahnsinnig“ und „narzisstisch“ nur so um sich.
Ist ja auch irgendwie entlastend, wenn man sagen kann: Ein Verrückter, wird’s leider immer geben, kann man nix machen. Weil man dessen Strategie und Denken, das System der vertikalen Machtverteilung aber schon längst hätte kennen können, wird es schlagartig ungemütlicher im eigenen Hirnkasten. In Wirklichkeit sind Zar Putin und seine Spießgesellen nämlich einfach nur Einserschüler der alten KGB-Schule – gelernt ist gelernt. Der kleine Wladimir bewarb sich bereits, so erzählt er es selbst, als Neuntklässler bei der KGB-Zentrale im damaligen Leningrad, um Agent zu werden. Und inhalierte nach seinem Jurastudium ab 1975 sämtliche Methoden, mit denen die Sowjetunion ihren Machtbereich knapp 50 Jahre lang zusammenhielt.
Für die meisten Menschen in der BRD, die weder familiäre noch freundschaftliche Beziehungen nach Osteuropa pflegen, hörte die Welt bis letzte Woche wahrscheinlich kurz hinter Polen auf. Fragt man aber die Menschen im Baltikum, dann wird man erfahren, dass man dort mit den russischen Schikanen durchaus vertraut ist – mit der Sprache, den Drohungen, der Desinformation. „Wir kennen das alles schon lange“, hatte der lettische Präsident Egils Levits kürzlich gesagt. Und immer wieder hatten die Balten vor der Bedrohung durch Putins fiebrige, imperiale Großmachtfantasien gewarnt.
Hätte ich nicht zufällig zwei Staatsbürgerschaften und würde mich nicht seit einiger Zeit intensiv mit der Geschichte Lettlands befassen – ich hätte, so wie wahrscheinlich die meisten Linken hierzulande, erst mal genauso beschwichtigend reagiert: Frieden kann es nur im Dialog mit Russland geben. Seid doch nicht so paranoid, die Zeiten der Sowjetunion sind längst vorbei. In Putins Kopf allerdings sind sie es nie gewesen.
Repatriierung des Großvaters
Zwei Tage vor Putins Angriff auf die Ukraine war ich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, um dort Dokumente über Repatriierungen, also die Rückführung von Menschen in ihr Heimatland, in die Sowjetunion einzusehen. Mein lettischer Großvater, 1944 mit der Nazi-Armee nach Deutschland gekommen, kehrte 1956 aus dem mutmaßlich etwas goldeneren Westen einigermaßen freiwillig in die bitterarme Sowjetrepublik Lettland zurück, um dort fortan in noch nicht vollumfänglich geklärter Rolle für den KGB tätig zu werden, während meine Großmutter, seine lettische Exgattin, in Deutschland blieb und als zivile Personalchefin in einem Depot der US-Army in Hessen über atomare Sprengköpfe wachte.
Ich hatte gehofft, in den Archivdokumenten vielleicht einen Hinweis darauf zu finden, ob die Repatriierung meines Großvaters in der kommunistenfressenden BRD der fünfziger Jahre mit ihrer unbedingten Westbindung vielleicht irgendwo mit nervöser Wachsamkeit bemerkt worden war. Die Botschaft der Sowjetunion wurde erst nach Adenauers Besuch in Moskau 1955 eröffnet, und in allerlei diplomatischen Noten ging es vorrangig um eine Art Geiselaustausch: Deutsche Kriegsgefangene (die allesamt unbedingt in die BRD zurückkehren wollten) gegen zu repatriierende Sowjetbürger (von denen der Großteil – allen voran die Balten und die Ukrainer – ganz und gar nicht scharf auf ein Leben in der Sowjetunion waren).
In die liebenden Arme von Mütterchen Russland
Der Duktus, in dem der sowjetische Botschafter und seine Delegationsmitglieder ihre Staatsbürger*innen auch gegen deren erklärten Willen zurückforderten, glich doch frappierend der gemeinsamen Fiktion, auf die man sich bis heute in russischen Regierungsverlautbarungen verständigt hat. Und bereits 1955 wurde völlig unbelegt behauptet, dass „Menschenversuche“ an Sowjetbürger*innen in Deutschland durchgeführt würden. Von der „drückenden und rechtlosen Lage der verschleppten Sowjetbürger“ war wiederholt die Rede, denen „in Westdeutschland beständig Hindernisse in den Weg gelegt würden“, statt endlich bald wieder von Mütterchen Russland in die liebenden Arme geschlossen zu werden.
Der Regierung der UdSSR seien „zahlreiche Fälle von Bedrohung und Gewaltanwendung gegenüber heimkehrwilligen Staatsbürgern bekannt“. Ihnen soll sogar „mit Ermordung gedroht“ worden sein, oder sie wurden „in Irrenanstalten eingewiesen, nur weil sie ihre Repatriierung beantragt hatten“. Auch die immer wieder bemühten Hitler-Vergleiche fanden sich schon damals zuhauf in der sowjetischen Satzbaukiste.
Russia Today seine Mudda
Nach dem Archivbesuch las ich sofort die aktuellen Nachrichten auf meinem Handy. Auch die komplette Rede, die Putin am 21. Februar gehalten hatte. Und es war so unübersehbar, dass mir drinnen gerade die Vorfahren der russischen Desinformationsmaschinerie begegnet waren – quasi Russia Today seine Mudda. Putin begann seine Rede mit einer bewährten rhetorischen Kapriole aus Sowjetzeiten – dem Beleidigtsein: Auf unsere Vorschläge wurde bisher nicht eingegangen, wir fordern schon seit Jahren, bisher wurde Forderung X immer aus unverständlichen Gründen ignoriert.
Fast wortgleich aus Dokumenten von 1956 übernommen. Dann ging er schnell dazu über, eine massive Bedrohung der russischen Bevölkerung zu skizzieren, sprach von „unverantwortlichen Politikern im Westen“, von „zynischem Betrug und Lüge “, von der „Schaffung eines uns feindlich gesinnten Antirusslands“. Der imperialistische Westen mit der aggressiven Nato, die dem russischen Volk nichts als Übles wollen. Von den USA, die, „um ihre Ordnung auf der Welt durchzusetzen, blutige, nicht heilende Wunden, Eiterbeulen des internationalen Terrorismus und Extremismus“ hinterließen.
Schnell in die Falle getappt
Und wenn man daraufhin denkt: Das ist ja in der Sache nicht ganz grundverkehrt – dann ist man bereits in die Falle getappt und auf dieses Narrativ eingestiegen. Dann kann im zweiten Schritt auch der abstruseste Bullshit behauptet werden, bei dem sich der geneigte Informationssuchende selbst allmählich in seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit hinterfragt, denn wenn etwas mit solcher Überzeugung vorgetragen wird, dann muss da ja schließlich irgendwas dran sein. Exakt so funktioniert Gaslighting, die gezielte Täter-Opfer-Umkehr – alles aus der alten KGB-Schule, Manipulations-Meisterklasse. Und das Irre ist: Je größer und wilder die Lüge, desto mehr Menschen sind gewillt, sie zu glauben.
Und wenn man nicht von selbst unter dem Dauerfeuer dieser Parallelrealitäten irgendwann einknickt, hilft ein bisschen Bedrohung ungemein, die Leute wieder auf Kurs zu bringen. Dabei stören Demokratie und freie Presse natürlich aufs Empfindlichste, denn das Mantra der Sowjetunion lautete seit jeher: Kontrolle, gut getarnt als Fürsorglichkeit. „Die Sowjetregierung erachtet es als ihre Pflicht, zum Schutze aller ihrer Bürger aufzutreten.“ So stand es in einer der diplomatischen Noten von 1956, und in genau diesem Geist des vorgeschobenen Paternalismus bezüglich der dortigen russischen Minderheit ist auch Putins territoriale Vereinnahmung sowohl der Krim als auch des Donbass zu verstehen.
Beständige Desinformation
Und auch ich bin dieser beständigen Desinformation und Verwirrungstaktik bei meiner Suche nach lettischen KGB-Akten in russischen Archiven immer wieder persönlich begegnet. „Nein, natürlich verwahren wir hier keine lettischen KGB-Akten, wie kommen Sie denn darauf? Da muss man Sie falsch informiert haben!“ Und nach der zehnten Absage von Archiven, bei denen es einigermaßen gesichert ist, dass dort sehr wohl KGB-Akten lagern, war ich auch immer mal wieder kurz geneigt, daran zu zweifeln, ob ich wirklich noch auf der richtigen Fährte bin.
Putin ist also leider kein Irrer, sondern ein Mann des alten Sowjetsystems, das ihn groß gemacht hat und dessen Regeln er bis heute noch meisterhaft beherrscht. Er hat all diesen Wahnsinn nicht erfunden, nur gelernt und perfektioniert. Das wussten die ehemaligen Sowjetrepubliken schon seit Jahren. Was leider gerade nichts auch nur ein bisschen besser macht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind