Russischer Oppositioneller Nawalny: Spiel auf Zeit im Krankenhaus
Das Geschacher um den komatösen Kremlkritiker Alexei Nawalny ist mehr als mysteriös. Das Staatsfernsehen zeigt währenddessen lieber Leoparden.
F lugstraße heißt die schnurgerade, knapp drei Kilometer lange Straße, an der sich Russlands Kremlkritiker Nummer 1 derzeit befindet. Im Koma, „Zustand: ernst“. Fliegen aber darf Alexei Nawalny derzeit nirgendwohin. Obwohl ein Rettungsflugzeug, auf Initiative der in Berlin ansässigen Stiftung Cinema for Peace, am Flughafen zehn Kilometer weiter auf den Abtransport wartet – Ziel: die Berliner Charité.
Der 44-Jährige liegt derweil weiter, angeschlossen an ein Beatmungsgerät, in der Klinik Nummer 1 in Omsk, Sibirien, einer der dreckigsten Städte Russlands.
„Nicht transportfähig“ sei er, wiederholen die Ärzte, wenn sie sich – steif und stammelnd – der Presse stellen. Wenn sie denn sprechen. Ihre Aussagen sind dürftig. Ja, es gebe „mehrere vorläufige Diagnosen“, diese dürften sie aber nicht nennen. Reanimatologen, Neurologen, Neurophysiologen, ja „alle Ärzte“, kümmerten sich um „den Patienten“.
Von Toxikologen sagen sie nichts. Nein, Gift sei weder im Blut noch im Urin gefunden worden – „kein Test hat Spuren von Giften nachgewiesen“. Auf welche Stoffe getestet wurde, sagen sie nicht.
LSD oder Diabetes als Diagnose
Nawalnys Mitstreiter*innen verbreiteten am Freitagmorgen die Nachricht, bei ihm sei eine „tödliche Substanz gefunden worden, die auch andere gefährde“. Russlands Sicherheitskreise verwiesen hingegen darauf – kaum war Nawalny nach einer Notlandung des Linienfluges von Tomsk nach Moskau, in dieser vom Industriedreck verpesteten Stadt gelandet, schon nicht mehr bei Bewusstsein –, der Mann habe womöglich Psychodysleptika eingenommen, bewusstseinserweiternde Pharmaka, zu denen auch LSD oder Ketamin zählen.
Und selbst die TV-Moderatorin Xenia Sobtschak, immer auf der Suche nach ihrer Rolle zwischen Opposition und Ergebenheit gegenüber dem Staat, hatte eine „Diagnose“ zu vermelden – von ihrer „Quelle im Omsker Krankenhaus“: Diabetes! Kaum einer weiß etwas, während jeder jedem alles zutraut.
Erfolgt ein Angriff auf eine der bekanntesten und einnehmendsten Figuren in der russischen Opposition, so ist der Hauptverdächtige schnell da: der Kreml. Die Geheimhaltung von Nawalnys Krankenakte, das Hinauszögern der Blutanalysen, das Drumherumreden der Ärzte machen die Geschichte nur noch mysteriöser.
Für Nawalnys Mitstreiter*innen war von Anfang an klar: Ihr oberster Anführer ist vergiftet worden. Absichtlich. Wie konnte das Gift in den Tee gelangen, den Nawalny als einzige Nahrung am Morgen vor dem Abflug nach Moskau zu sich genommen haben soll? Und erscheinen Nawalnys Kandidaten, die bei der Regionalwahl im September antreten, als so gefährlich, dass man ihrem Wortführer nach dem Leben trachtet? Wer? Der Geheimdienst FSB? Regionale Fürsten und ihre Hintermänner? Der Kreml selbst? Alles Spekulationen.
Nawalnys Ehefrau bekommt Zutritt
Julia Nawalnaja, die Frau des Oppositionellen, weiß nur: „Sie halten ihn in diesem Krankenhaus fest, damit die Reste des Stoffes, den er zu sich genommen haben muss, aus seinem Körper verschwinden.“ Die Ärzte aus Omsk sprechen von „noch zwei Tagen“, die sie für eine definitive Diagnose bräuchten.
Immerhin war Nawalnaja im Krankenzimmer ihres Mannes. „Kein Zutritt“ hatte es erst geheißen. Der Patient habe „keine Erlaubnis für Besuche“ erteilt. Dass „der Patient“ im Koma liegt, störte das Personal offenbar wenig. Der nächste Grund: Die 44-Jährige könne keine Heiratsurkunde vorlegen. Das ist lächerlich, weil in jedem russischen Inlandspass die Ehepartner*innen und Kinder verzeichnet sind. Samt Stempel eines Standesamtes.
Es ist ein Spiel auf Zeit – Zeit, in der ein Mensch um sein Leben ringt. Das beschäftigt selbst die Unpolitischsten. Da sagt eine, die Nawalnys Ambitionen „fragwürdig“ findet: „Wer macht so was? Er könnte sterben. In was für einem Land leben wir?“ Oder einer, den Nawalnys „Arroganz manchmal zur Weißglut“ getrieben hat: „Möge der Mann leben und uns weiter ärgern.“
Das Staatsfernsehen berichtet derweil von Leoparden im Kaukasus. Oder von Giftschlangen, deren Population in Russland wachse. Von möglichem Gift im Körper des Mannes, dessen Namen Russlands Präsident Wladimir Putin nie erwähnt, kein Wort. Auch an der Flugstraße in Omsk bewegt sich wenig, dabei sind dort so viele in Bewegung. Ein Elend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?