Russischer Miltärexperte zu INF-Vertrag: Wie am Vorabend der Kuba-Krise
Alexander Golts hält die Aufkündigung des INF-Vertrages durch Russland und die USA für brandgefährlich. Denn es gibt kein Sicherheitskissen mehr.
taz: Herr Golts, Washington und Moskau haben sich nach mehr als 30 Jahren aus dem INF-Vertrag zurückgezogen, der die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen verbot. Was bedeutet das für Russland?
Alexander Golts: In nächster Zeit hat das nichts Schlimmes zu bedeuten, zunächst zumindest. Die USA haben den Vertrag aufgekündigt und Russland zu Recht vorgeworfen, gegen ihn verstoßen zu haben. Sie behaupten auch, Moskau habe in einigen Bereichen militärische Überlegenheit erlangen können. Längerfristig könnte der Rückzug aber auf eine atomare Katastrophe hinauslaufen, da nukleare Rüstung keiner klaren Kontrolle mehr unterliegt.
Washington behauptet, Russland hätte den Vertragsrahmen genutzt, um aufzurüsten. Stimmt das?
In der Tat gibt es ungeprüfte Aussagen, die nahelegen, Russland habe heimlich sein atomares Potential ausgebaut. Die amerikanischen Beweise, die mit der Verletzung des INF-Vertrags vorgebracht wurden, stützen sich auf eine lange Kette indirekter Belege. Niemand wurde in flagranti erwischt. Moskau war und bleibt begrenzt in den Möglichkeiten, Europa anzugreifen. Es hat auch das Recht, die Iskander-Rakete (bis 480 Kilometer Reichweite Anm. d. Red.) als atomare Rakete zu entwickeln. Ich glaube aber nicht, dass die auf Europa gerichtet sein würde.
Was lässt Sie an nuklearer Hochrüstung in Russland zweifeln?
Ich glaube nicht, dass Russland der Entwicklung von Nuklearwaffen Priorität einräumt.
Was macht Sie so sicher?
Um ehrlich zu sein: in Europa gibt es nicht mehr viele Ziele für einen atomaren Angriff. Das ist auch gut so. Nach 30 Jahren Frieden ist Europa entmilitarisiert. Selbst wenn jemand dort auf die Idee käme, einen großen Krieg zu entfachen, hätte Europa dafür keine ausreichenden Kräfte.
ist Militärexperte und Redakteur des kritischen Internetportals „jeschedewnij Schurnal“.Nach dem Studium der Journalistik arbeitete er von 1980 bis 1996 beim Zentralorgan des Verteidigungsministeriums „Roter Stern“. Während eines Studienaufenthalts im Zentrum für internationale Sicherheit und Zusammenarbeit der Stanford University (USA) schrieb er zum Thema „Russlands Armee: elf verlorene Jahre“, die auch in „Jane's Defence Weekly“ erschien.
Die USA sprechen seit 2013 von dem Marschflugkörper 9M729 (Nato-Code SSC-8), mit dem Russland gegen den INF-Vertrag verstoßen haben soll. Welche Verletzungen wirft Moskau den USA im Gegenzug vor?
Es beanstandet, dass die US-„Tomahawk“-Marschflugkörper in Rumänien und Polen auf Abschussvorrichtungen des MK-41 Systems montiert werden können. Bislang hat jedoch niemand eine Rakete aufgestellt oder abgeschossen. Noch nicht einmal Tests wurden durchgeführt. Die Annahme ist rein hypothetisch.
Ließen sich diese Probleme nicht auch anders lösen? Muss es unbedingt ein neues Wettrüsten geben?
Weder die russischen noch die amerikanischen Anschuldigungen sind so gravierend, dass sie sich nicht mit gutem Willen klären ließen. Doch der gute Wille fehlt.
Woran liegt dieser Unwille?
In Russland und den USA haben sich Denkschulen durchgesetzt, die Atomwaffenkontrolle nicht mehr für nötig halten. Beide Seiten lassen sich bewusst auf einen Wettbewerb ein: nach dem Motto, wer stellt mehr Raketen her, wem geht zuerst die Puste aus. Trump spricht in aller Offenheit davon, wer dem Wettrüsten als erster zum Opfer fallen würde.
Ist das ein Rückfall in die Zeit der 1980er Jahre vor dem Nato-Doppelbeschluss?
Die Analogie zu den 1980er Jahren trifft nicht zu. Wir kehren vielmehr in die 1960er zurück, als es noch keine vertraglichen Regelungen gab. Wir laufen Gefahr, wieder am Vorabend der Kuba-Krise anzukommen.
Bedeutet das, die Lage ist brenzliger als in den 1980er Jahren?
Sie ist gefährlicher: Zum einen entfällt der INF-Vertrag jetzt. Unwahrscheinlich scheint auch, dass der New Start Vertrag zur Verringerung und Begrenzung strategischer Offensivwaffen 2021 (mit Reichweiten von mehr als 5.500 Kilometern Anm. d. Red.) noch einmal verlängert wird. Ein weiterer Kontrollvertrag entfiele dann. Damit endet das System der Nuklearwaffenkontrolle des Kalten Krieges. Darüber hinaus gab es damals noch im Rahmen der SALT I und SALT II-Verhandlungen Möglichkeiten, das Atomwaffenarsenal zu begrenzen. Auch ein Raketenabwehrvertrag sorgte damals noch für Sicherheit. All das mag für den Notfall nicht besonders verlässlich gewesen sein, dennoch stellte es ein Sicherheitskissen dar.
Russlands Verteidigung beruht auf dem Zweitschlag-Szenario, kann sich daran etwas ändern?
Russland rechnet nach wie vor mit einer halben Stunde, um noch über einen Zweitschlag entscheiden zu können. Russland hätte noch Zeit, sich durch Beten auf das Paradies vorzubereiten, meinte Putin kürzlich. Mit Mittelstreckenraketen, die Moskau und Sankt Petersburg in sechs bis acht Minuten erreichen können, ist das nicht mehr möglich. Raketen in die USA sind länger unterwegs. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Kreml Szenarien für einen Präventivschlag ausarbeiten könnte.
Russland und Europa würden hauptsächlich von neuen Kurz- und Mittelstreckenraketen bedroht?
Russland wäre im Nachteil. In einer verwundbaren Lage steigt auch die Wahrscheinlichkeit, bei Gegenreaktionen ganz Europa in Mitleidenschaft zu ziehen. Klar ist: Wir sprechen von einer Situation, in der jeder Vorfall eine weltweite Katastrophe nach sich ziehen könnte.
Halten Sie dieses Szenario für möglich, für eine reale Bedrohung?
Sollte sich die Lage nach dem bisherigen Szenario weiter hochschaukeln, werden die Amerikaner früher oder später auch in Europa Raketen aufstellen wollen.
…bislang haben sie aber noch keine…
Zurzeit tun sie so, als seien sie daran nicht interessiert. Sie haben auch nichts, was sie aufstellen könnten. Die Entwicklungen befinden sich noch am Anfang. Sobald die Raketen aber auftauchen, werden sie auch in Europa disloziert.
Was verbirgt sich hinter den Wunderwaffen „Kalibr“ und „Zirkon“? Haben die USA ähnliche Systeme?
Die Kalibr ist eine seegestützte Rakete von einer Reichweite von 1.400 Kilometer, wenn sie konventionell eingesetzt wird. 2.500 Kilometer flöge sie mit dem leichteren atomaren Stoff. Sie ist mit den Tomahawk Flugkörpern der USA vergleichbar. Zirkon ist auch seegestützt. Sie soll mit fünf- bis sechsfacher Hyperschallgeschwindigkeit fliegen. Über sie ist bislang nur wenig bekannt.
Die USA haben bislang auch noch keine Überschallwaffe…
Auch bei uns zweifeln viele an deren Existenz. Die Frage bleibt offen. Auch wenn im letzten Jahr dem Präsidenten die Überschallwaffe in einer Animation vorgeführt wurde, reicht das vielen nicht als Beweis.
Wollen sich Russland und USA gegenseitig einschüchtern oder sind sie schon für ein neues Wettrüsten bereit? Hat es nicht auch etwas Virtuelles?
Zumindest tun sie so. Noch jagen sie sich gegenseitig Angst ein. Der US-Kongress bewilligte in diesem Jahr 58 Millionen Dollar für die Raketenproduktion, das ist Kleinkram! Und Russland – darin liegt die Ironie der Situation – prahlte mit Raketentypen, über die die USA in ihrem Arsenal noch nicht verfügen. Noch bevor es die Waffen auf der Gegenseite gibt, drohte Moskau, es werde zu Gegenmaßnahmen greifen…
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