Russischer Film: Seine Waffe ist das Bibelwort

In „Der die Zeichen liest“ geht der Schüler Benjamin auf einen christlichen Rachefeldzug. Er hat sich russisch-orthodox radikalisiert.

Ein junger Mann steht vor einem Holzkreuz und hält einen Hammer in der Hand

Hauptdarsteller Petr Skvortsov spielt den christlich radikalisierten Schüler Benjamin Foto: mm-filmpresse

Es war der Tatbestand der „Verletzung religiöser Gefühle“, der in den vergangenen Jahren das Dasein russischer Künstler, Ausstellungsmacher und Menschenrechtler auf den Kopf gestellt hat. Ausgerechnet auf dem künstlerisch freizügigsten aller postsozialistischen Terrains, wo in den neunziger Jahren sämtliche Transgressions-Register ausgelotet wurden, der neokapitalistische Boom aus der geistigen Orientierungslosigkeit aber auch ein ideologisches Anything Goes machte, kam es zum ultimativen Backlash.

Beinahe zehn Jahre vor dem legendären „Punk-Gebet“ von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale ereignete sich 2003 erstmals Symptomatisches: Die religionskritische Kunst-Schau „Achtung, Religion“ wurde von orthodoxen Rechtgläubigen, die ihre Gefühle verletzt sahen, gestürmt. Das Verfahren gegen sie wurde vom Gericht als unrechtmäßig eingestuft; dafür wurden Museumsleitung sowie Ausstellungsmacher wegen „Anstiftung zu religiösem Hass“ verurteilt. Nur zwei Duma-Abgeordnete waren gegen diese Strafanzeige, darunter der später ermordete Sergei Juschenkow. Er hatte warnend von der Geburtsstunde „des totalitären Staates unter der Führung der Orthodoxen Kirche“ gesprochen.

Auch in Kirill Serebrennikovs Film „Der die Zeichen liest“ („Uchenik“), der nun in Deutschland in die Kinos kommt, fällt das Wort Totalitarismus im Zusammenhang mit dem russischen Staat. Auch hier geht es um den aberwitzigen Einfluss, den die orthodoxe Kirche mittlerweile auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hat, insbesondere auf die Schulen (schön skurril jene Szene, in der die Popen einen Turnsaal weihen). Und auch hier steht ein religiöser Eiferer, Benjamin sein Name, im Mittelpunkt. Am Ende des Films tanzen fast alle nach seiner diskursiven Peitsche – aus unterschiedlichen Motiven schließen sie sich seinem gewaltbejahenden Sittlichkeits-Rachefeldzug an, der sich aus einer einzigen Quelle nährt: der Heiligen Schrift.

Unsittlichkeit, Unglaube

Kirill Serebrennikov hat das Stück „Märtyrer“ des deutschen Theaterautors Marius von Mayenburg, das 2011 an der Berliner Schaubühne Premiere hatte, für den russischen Kontext adaptiert, und das funktioniert trotz grundlegendem Koordinatenwechsel (vom furchtbar liberalen Deutschland ins furchtlos antiliberale Russland) ganz gut.

Auch im Film werden sämtliche Bibel-Zitate belegt. Benjamins Sermon wird dadurch allerdings um nichts verständlicher (jede Form des Obskurantismus, so der Regisseur, sei ihm zuwider): Wahllos bedient er sich diverser aus dem Zusammenhang gerissener Hetzreden, gegen Unkeuschheit, Unsittlichkeit, Unglaube. Seine Waffe ist das Wort. Seinen Jünger oder Schüler (russ. Uchenik) schickt er gar auf Tötungsmission. Unterdrückte Homosexualität ist auch im Spiel.

„Der die Zeichen liest (Uchenik)“. Regie: Kirill Serebrennikov. Mit Pyotr Skvortsov, Wiktorija Issakowa, Alexander Gorchilin. Russland 2016, 118 Min.

Zwar geraten bei Benjamins surrealem Kreuzzug (der musikalisch brachial von Laibachs „God is God“ begleitet wird) fast alle Mitmenschen ins Visier – von der alleinerziehenden Mutter, der er Ehebruch und sexuelle Ausschweifung zur Last legt, über seine Bikini-tragenden Mitschülerinnen, für die er den Schwimmunterricht reformieren lässt, bis hin zu einem Popen, der in Benjamins Augen zu wenig Haltung zeigt und dem ordentlich die Leviten gelesen werden. Doch das eigentliche Ziel der Kampagne ist die (jüdische) Biologielehrerin, die die Chuzpe hat, Benjamins Kreationismuswahn einen satten atheistischen Darwinismus entgegenzuhalten. Die beiden überbieten sich sodann in demonstrativem Klassenzimmer-Exhibitionismus, was inszenatorisch zu den gelungensten Momenten des Films zählt (die Ernsthaftigkeit der Radikalisierungsthematik jedoch endgültig in Richtung Farce kippen lässt).

Immer wieder entzieht sich Serebrennikov einer allzu intellektuellen Auseinandersetzung mit den vielen Phänomenen, die in „Uchenik“ untergebracht sind. Das gilt nicht nur für den religiösen Extremismus – dessen konfessionelle christliche Rahmung angesichts der Virulenz islamistischen Terrors so provokativ wie banal ist –, sondern auch für die Misogynie und den Antisemitismus, mit dem die Biolehrerin plötzlich konfrontiert wird. Da bleibt es oft bei Andeutungen. Wohlwollend kann man das auch als zynische Direktabbildung jener schier unfassbaren Diskurs-Verwirrung sehen, die den russischen Alltag fest im Griff hat und interessanterweise da am explizitesten wird, wo es (im Geschichtsunterricht) um die Effizienz der Stalin’schen Politik geht.

Serebrennikov erzählt, schockt und unterhält lieber, als dass er analysiert. Das ist in diesem Fall aber nicht schlimm. Denn obwohl „Uchenik“ an die filmische Virtuosität des großen Dramas „Leviathan“ (2014, Andrei Swjaginzew) nicht heranreicht, so berührt der private Dschihad seines jungrussischen Märtyrers einen äußerst wunden Punkt: In „Leviathan“ liegt die Niedertracht Putin-Russlands noch ganz in der Korruptheit des Systems. „Uchenik“ geht einen Schritt weiter. Der Film zeigt eine manipulierbare, zutiefst fundamentalistische, nationalistische Gesellschaft, die vor allem eines ist: hasserfüllt.

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