Russischer Angriff auf Ukraine: Kiew unter Schock

Am Bahnhof versuchen Menschen verzweifelt, ein Ticket Richtung Westen zu bekommen. Vor den Banken sind lange Schlangen. Eindrücke aus Kiew.

Polizisten inspizieren Überreste einer Rakete

Polizisten inspizieren die Überreste einer russischen Rakete in Kiew, 24. Februar Foto: Valentyn Ogirenko/ap

KIEW taz | Jeden Morgen um drei Uhr höre ich in meiner Kiewer Wohnung das gleichmäßige Rattern von Güterwaggons auf den Gleisen. Auch in der Nacht zu Donnerstag rumort es. Doch es hört sich irgendwie anders an – so als ob Geschosse einschlügen. Aber der Donbass ist ja noch weit, denke ich, es kann also nichts Kriegerisches sein. Und so mache mich auf in Richtung Sportplatz, um meine morgendlichen Runden zu ­laufen.

Dort treffe ich um sechs Uhr den Aserbaidschaner Alik, der hier ebenfalls wie fast jeden Tag seinen Frühsport macht. An diesem Morgen begrüßt er mich mit einem lapidaren „Es ist Krieg“. Ja, er könne mir erklären, was dieses Donnern zu bedeuten habe, sagt er. Er habe gerade mit seinen Bekannten in Borispol, da wo der Kiewer Flughafen liegt, gesprochen. Und da werde geschossen.

Er ist geschockt, wundert sich, dass wir heute die Einzigen sind auf dem Sportplatz. Während des Laufs, es ist noch dunkel, zischt etwas 20 Meter über meinen Kopf hinweg. Ich bin kein Spezialist für Flugobjekte. Aber das, was da vorbeizischt, ist viel schneller als ein Flugzeug.

Irgendwann verschwindet Alik, er fürchte sich vor einer Erkältung, wenn er zu lange an diesem kalten Morgen laufe, wie er sagt. „Mensch, Alik, sei doch ehrlich“, denke ich bei mir, „du willst einfach nicht von einer Rakete getroffen werden.“

Riesige Schlangen vor Bankautomaten

Geld könnte ich jetzt gut gebrauchen, überlege ich und mache mich auf die Suche nach einem Bankautomaten. Schon von der Ferne sehe ich eine riesige Schlange vor dem Gerät. Alle stehen sie schweigend vor dem Bankautomaten und starren mit versteinerten Mienen auf ihre Handys. Die Bilder, die sie auf ihren Smart­phones sehen, sind immer die gleichen: Explosionen, Rauch und Panzer.

„In Kiew herrscht keine Panik“, heißt es im Fernsehen, aber Staus an den Ausfahrtstraßen der Stadt und Schlangen vor Bankautomaten und Bäckereien sind doch Ausdruck von Panik, oder nicht. Dann erreicht mich ein Anruf aus Odessa. Auch bei ihnen werde geschossen, berichtet der Tierschützer Ale­xander Titartschuk. „Könnt ihr nicht die Hunde und Katzen, die wir in den Tierheimen betreuen, nach Deutschland evakuieren?“, fragt er.

Wenig später ist der Journalist Stanislaw Kibalnik aus der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw am Telefon. „In Charkiw herrscht keine Panik und wir haben keine verstopften Straßen. Wir werden evakuierte Kinder aus Schastje aufnehmen. Im Norden der Stadt wurde ein Militärteil beschossen“, berichtet Kibalnik

Insgesamt sei es in Charkiw ruhiger als in Kiew, sagt er. Da ist es noch früh am Morgen. Wenige Stunden später erhalte ich Fotos von Menschen, die unten in der U-Bahn von Charkiw kauern.

Auch am Kiewer Bahnhof donnert es. Verwirrt und fassungslos schauen Menschen, die sich mit ihren Koffern auf den Weg zum Gleis machen, in den grauen Himmel. Zu sehen ist nichts.

Am Eingang stehen mehrere Polizisten mit Kalaschnikows in den Händen. Das wirkt martialisch. Der Bahnhof ist übervoll, riesige Menschenschlangen stehen vor den Schaltern. Nur eines gibt es nicht: Tickets nach Deutschland und Polen.

EIne weinende Frau sitzt auf einem Gepäckstück inmitten einer Menschenmenge

Mit Tränen in den Augen: Eine Frau wartet auf einen Zug, um Kiew zu verlassen, 24. Februar Foto: Emilio Morenatti/ap

Die Stimme der Ansagerin am Bahnhof ist schon in einer höheren Tonlage angekommen. Die Dame wiederholt immer wieder dasselbe. Züge seien verspätet oder ganz ausgefallen. Immer wieder antworten Fahrgäste auf die Frage „Wohin?“, „Geben Sie mir bitte eine Fahrkarte irgendwohin, in den Westen der Ukraine, Lwiw oder in eine andere Stadt dort.“

„Wie, es gibt keine Tickets nach Deutschland“, spricht mich eine Frau in der Schlange, die etwas hinter mir steht, in deutscher Sprache an. Sie hat beobachtet, dass ich eine Fahrkarte nach Deutschland oder Polen kaufen will und gesehen, dass ich keine erhalten habe. Enttäuscht wendet sie sich ab und verlässt die Menschenschlange.

„Die Panzer werden auch nach Kiew kommen“

Ein ähnliches Bild bietet sich am Busbahnhof. So voll wie heute ist der noch nie gewesen. Und bei jeder Busfahrt nach Deutschland hatte ich sonst immer zwei Plätze für mich allein, weil die Busse normalerweise immer nur zur Hälfte ausverkauft sind. Doch nun ist es ganz anders, Normalität war gestern.

Schluchzende Frauen bedrängen die Fahrer. „Zuerst dürfen die rein, die eine Fahrkarte haben“, versucht sich der Fahrer des Ansturms der Frauen, die offensichtlich keine Tickets gelöst haben, zu erwehren. Ausgerechnet heute sind die Kioske, die mit „Internationale Busverbindungen“ werben, geschlossen. Eine Frau klopft ans Fenster. „Sie sehen doch, dass dieses Büro heute nicht besetzt ist“, raunt ihr ein Mann zu.

Auf dem Rückweg komme ich wieder an Bankautomaten vorbei. Überall lange Schlangen. Dann entdecke ich einen, an dem nur drei Menschen stehen. Ich gehe ein Stück näher heran und verstehe, warum die Menschen diesen Automaten meiden. Er befindet sich nämlich vor einer Kaserne. Da bisher fast nur militärische Ziele beschossen worden sind, meiden die Menschen diese Orte.

Da klingelt wieder das Telefon. Taisja Garadnitschewa aus Konotop, einem Dorf eineinhalb Autostunden von der russischen Grenze entfernt, berichtet, dass die russischen Panzer schon in der Ortschaft Buryn bei Konotop seien – und die Ukrainer keinen Widerstand leisten würden. Ihre Bekannten hätten die Panzer gefilmt.

Und die Panzer werden wohl auch nach Kiew kommen. Dann schaue ich mal, dass ich wegkomme. Von einem Kollegen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erfahre ich, dass eine französische Journalistin in der Nähe des Flughafens Boryspil festsitzt. Sie sei eingekesselt, meint er. Da sei geschossen worden, deswegen habe die ukrainische Armee alles abgeriegelt. Am Abend klingelt es an der Tür, davor steht eine Frau, mit einem Koffer in der Hand. Ich dachte, sagt sie, hier wäre der Schutzraum. Nein, sage ich, das ist die andere Tür. Sie bedankt sich freundlich und geht durch die Nebentür und von dort die Kellertreppe hinunter.

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