Russische Klassiker und der Ukrainekrieg: „Puschkin ist doch nicht schuld“
Dana Bjork leitet das russischeTheaters in Riga. Im Gespräch verteidigt sie die Beschäftigung mit russischer Kultur trotz des Krieges.
taz: Frau Bjork, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt auch die lettische Gesellschaft vor eine Zerreißprobe. Knapp über ein Viertel der Bevölkerung gehört der russischen Minderheit an. Was hat sich seit dem 24. Februar 2022 in Lettland verändert?
Dana Bjork: Menschen, die schon vorher national eingestellt waren, meinen jetzt das moralische Recht zu haben, laut und aggressiv gegenüber denjenigen auftreten zu können, die hier seit Jahrzehnten leben und aus irgendeinem Grund die lettische Sprache nicht erlernt haben. Die öffentliche Welle von Anschuldigungen halte ich für absolut falsch. Diese Leute folgen dem Beispiel des Kreml-Regimes, sie erniedrigen diejenigen, die an all dem nicht schuld sind.
Was bedeuten diese Veränderungen für Sie persönlich?
Früher musste ich mich nie verteidigen, weder mein Recht auf meine Meinung noch mein Recht, Russisch zu sprechen. Jetzt fühle ich mich in der Stadt, an öffentlichen Orten, unwohl, wenn ich Russisch spreche. Ich spüre, dass die Mehrheit das als etwas Negatives, ja Verbotenes wahrnimmt. Mit meinem kleinen Sohn, er ist gerade zwei Jahre alt geworden, spreche ich auf der Straße immer Lettisch. Intuitiv habe ich das Gefühl, damit auch ihn vor schrägen Blicken Unbekannter zu schützen. Das ist alles sehr traurig.
Einige fordern, Werke russischer Klassiker, wie zum Beispiel Alexander Puschkin oder Anton Tschechow, aus dem Programm zu nehmen, mancherorts wurden Veranstaltungen auch schon abgesagt. Können Sie das nachvollziehen?
Ich halte das für eine große Dummheit. Man soll nicht da nach Schuldigen suchen, wo es sie nicht gibt. Puschkin, aber auch zum Beispiel der Komponist Pjotr Tschaikowsky, sind doch nicht schuld an dem, was heute passiert. Ich bin absolut überzeugt, dass sie diesen Krieg nicht unterstützt hätten.
Das Russische Theater in Riga stellt jeder Aufführung seit Kriegsbeginn einen Vorspann voran. Darin heißt es, das Theater sei kategorisch gegen Krieg und Aggression, unterstütze das ukrainische Volk. Und weiter: „Niemand von uns kann die Lage in der Ukraine direkt beeinflussen, aber jede/r kann Unstimmigkeiten in unserem gemeinsamen Haus Lettland verhindern.“ Warum haben Sie sich zu diesem Schritt entschieden?
Dana Bjork, 38, leitet das Russische Theater „Michail Tschechow“ in Riga seit Januar 2018. Sie stammt aus der Stadt Jelgava und ist Absolventin der lettischen Kunstakademie, wo sie einen Masterabschluss in Kulturmanagement erwarb.
Sieben Jahre arbeitete sie in der Organisationsabteilung der Stiftung „The Performing Arts Producers Foundation“. Ab 2010 war sie am Russischen Theater in Riga als Schauspielerin tätig.
Der Beginn des Krieges war für uns ein Signal, dass fortan alles Russische unter Druck geraten würde. Das heißt auch, das Russische Theater, ja die russische Kultur und Sprache überhaupt werden als eins mit den politischen Entscheidungen Russlands betrachtet. Wir wollen mit unserer Botschaft ausdrücken, dass das absolut nicht zutrifft. Gleichzeitig ist es jedoch unsere Aufgabe, für die russische Kultur und Sprache einzustehen. Außerdem ist uns sehr wichtig, dass sich die Spaltung in unserem Haus Lettland zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität nicht weiter vertieft. Die hiesige russische Bevölkerung unterstützt die Ideen und Werte unseres gemeinsamen Staates und nicht die des Nachbarn.
Alle Ihre Vorstellungen finden, von einigen dramaturgischen Erfordernissen abgesehen, ausschließlich in russischer Sprache statt. Sprache ist in Lettland seit der Unabhängigkeit 1991 ein Politikum, heutzutage mehr denn je. Denken wir an verpflichtende Lettisch-Sprachtests für Angehörige der russischen Minderheit, deren Aufenthaltstitel an den Nachweis entsprechender Kenntnisse gekoppelt ist. Sprechen alle Schauspieler*innen in Ihrem Theater außer Russisch auch Lettisch?
Nicht alle, denn sieben Schauspieler*innen aus der Ukraine, der Russischen Föderation und Belarus, die vor dem Krieg geflohen sind und in Lettland ein neues Zuhause gefunden haben, arbeiten jetzt für uns. Deshalb haben wir vor Kurzem mit einem Trainingsprogramm für die lettische Sprache begonnen.
Wie ist das Verhältnis unter den Künstler*innen, treten Konflikte auf?
Nein, im Gegenteil. Die Ukrainer*innen und die anderen, die vor nicht allzu langer Zeit aus Russland und Belarus ans Theater gekommen sind, halten zusammen. Meine Erklärung dafür ist folgende: Denjenigen, die aus Russland geflohen sind, tut es weh zu begreifen, dass ihr Heimatland solche Gräueltaten gegenüber anderen Menschen begeht. Diese Leute machen viel durch, denn sie fühlen sich schuldig, ohne eigenes Verschulden. Sie verspüren einen großen Schmerz, und dieses Gefühl teilen sie mit den Ukrainer*innen.
Ist Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Thema auf der Bühne?
Bei uns gilt der Grundsatz: Das Russische Theater in Riga hat heute nicht das Recht zu schweigen. Deshalb haben wir unser Repertoire sofort an die neue Situation angepasst. Denn Theater ist doch auch ein Spiegel dessen, was aktuell passiert, und es macht das zum Thema, was gerade mit den Menschen vor sich geht.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Ein Stück, mit dem wir die Saison vor der Sommerpause beendet haben, handelt von einer Deportation nach Sibirien. Die Grundlage dafür ist ein biografisches Buch der EU-Abgeordneten Sandra Kalniete. Das Thema ist politisch, aber der Regisseur zeigt auch menschliche, humane Aspekte. Herausgekommen ist ein Mix – ein hartes, politisch schmerzhaftes Thema, das mit dem Regime der Sowjetunion zusammenhängt. Aber es geht eben auch um den Schmerz, das Schicksal des Einzelnen, der zu einem Spielball der Macht wird. Die Parallelen zu heute liegen auf der Hand.
Inwiefern?
Auch jetzt leiden ganz normale Menschen. Ukrainer*innen, Russ*innen, Menschen anderer Nationalität in der Russischen Föderation. Sie verlieren die Familie, den Bruder, die Mutter, letztendlich sich selbst. Diejenigen, die zu uns ins Theater kommen, verstehen das und finden sich darin wieder.
Wie war die Resonanz auf die Aufführungen?
Wir haben in der ersten Hälfte dieses Jahres am Anschlag gearbeitet, die Säle waren zu 100 Prozent ausverkauft. Zum Ende der Saison mussten wir sogar noch zwei zusätzliche Aufführungen ins Programm aufnehmen.
Haben Sie eine Mission? Und wenn ja, welche ist das?
Unsere Zuschauer*innen sollen sich ein Bild machen, indem sie die Gegenwart durch das Prisma der Geschichten betrachten, die auf der Bühne erzählt werden. Das ist auch ein Appell an unsere gemeinsamen Werte als einer politischen Gemeinschaft. Wir wollen vor allem diejenigen im Publikum ansprechen, die noch nicht abschließend durchdrungen haben, was vor sich geht und auf welcher Seite sie sich positionieren sollen. Es geht darum, Menschen anzusprechen, die sich aus irgendeinem Grund immer noch der Realität verweigern und versuchen, den Krieg als Propaganda aus der Ukraine oder Lettland abzutun, weil sie in einer Welt leben, die sie sich selbst ausgedacht haben. Vielleicht werden wir die Älteren mit unserer Arbeit nicht überzeugen, aber ihre Nachkommen, Kinder und Enkel, können wir erreichen.
Wie soll das genau funktionieren?
Wir fahren zweigleisig. Es wird eine neue Bühne geben, außerhalb der vier Wände des Theaters, wo intensiv mit jungen Schauspieler*innen gearbeitet wird und ein Kinderstudio zur Entwicklung schauspielerischer Fähigkeiten. Und wir organisieren Diskussionsplattformen, bei denen die Zuschauer*innen und Schaupieler*innen ins Gespräch kommen können. Von diesem Gedankenaustausch und den persönlichen Begegnungen erhoffe ich mir Synergieeffekte, auch im Hinblick auf einen Dialog.
Kunst also als Brückenbauerin?
Unbedingt. Derzeit erleben wir einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte. Gerade in solchen kritischen Momenten kommt der Kunst eine besonders wichtige Rolle zu.
Werden auch im kommenden Herbst politische Stücke auf dem Spielplan stehen?
Ja, im Oktober haben wir eine Inszenierung von Caligula im Programm – eine vergangene Tyrannei. Das eröffnet die Möglichkeit, Tyranneien heutzutage zu thematisieren.
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