Boykott von Tschaikowsky: Im Krieg mit den Klassikern

Der ukrainische Kulturminister fordert von Europa, Werke des russischen Komponisten Tschaikowsky zu boykottieren. Das Gegenteil zu tun, wäre schlauer.

Eine Balletszene

Harmlose Schwäne lassen sich zwar nationalistisch einspannen. Aber sie deswegen boykottieren? Foto: Christoph Hardt/imago

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist längst in Theatern, Opernhäusern, Konzertsälen und Ausstellungshallen angekommen. Vor allem russische Kulturschaffende sind zwischen die Fronten geraten. Verträge werden gekündigt, Auftritte abgesagt, Spielpläne ad hoc verändert. Russische Künst­le­r*in­nen sollen sich erklären, wie sie es mit Wladimir Putins „Spe­zial­operation“ beziehungsweise dem Kremlherrscher überhaupt halten.

Im März 2022 entschied sich das Waliser Cardiff Philharmonic Orchestra bei einem Konzert dafür, die Ouvertüre 1812 des russischen Komponisten Pjotr Tschaikowsky durch ein anderes Klangerlebnis zu ersetzen. Nicht abwegig, ist besagtes Werk doch eine musikalische Hommage an die Verteidigung Russlands gegen die Invasion Napoleons, in der Kanonendonner zu hören ist. Auch andere Konzertveranstalter legten vergleichbare „Säuberungsprogramme“ auf. Schon war von einer „cancel culture“ die Rede. Die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth merkte an, sie lasse sich den Tschechow nicht von Putin wegnehmen – ein Problem, das durch den Gang in eine Buchhandlung leicht zu lösen wäre.

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Um Tschaikowsky geht es auch dem ukrainischen Kulturminister Oleksandr Tkatschenko. In einem Beitrag für den britischen Guardian in dieser Woche fordert er die westlichen Verbündeten auf, Werke von Tschaikowsky zu boykottieren. Der Komponist solle zwar nicht auf ewig in der Versenkung verschwinden, aber es gehe darum, bis zum Ende von Russlands „blutiger Invasion“ eine Pause einzulegen. Zur Begründung führt Tkatschenko an, dass dieser Krieg ein „zivilisatorischer Kampf um Kultur und Geschichte“ sei, mit dem Moskau versuche, die ukrainische Kultur und Erinnerung auszulöschen – Kultur werde als Waffe eingesetzt.

Wie das in der Praxis aussieht, zeigt ein Blick in die von Russland besetzten Gebiete der Ukraine: Dort bietet sich ein Bild totaler Zerstörung – seien es Kunstwerke, Museen, Bibliotheken oder Theater. Der Kreml entblödete sich auch nicht, den Schriftsteller Alexander Puschkin zu bemühen, um in der Stadt Cherson mit entsprechend gestalteten Billboards die Landnahme zu legitimieren.

Mit der Rückeroberung durch ukrainische Truppen hat sich dieses Thema in Cherson erledigt – Puschkin ist weg und nicht nur er. Mittlerweile aber steht die russische Kultur in ihrer Gesamtheit auf dem Index. Musik, Filme, Literatur, Theaterstücke – tabula rasa. In den Lehrplänen der ukrainischen Schulen tauchen russische Au­to­r*in­nen nicht mehr auf, genauso wenig wie Russisch als Unterrichtsfach. Russische Bücher werden aus Bibliotheken entfernt, bei Sammlungen können sich Ukrai­ne­r*in­nen der russischen Meister entledigen, die im Altpapier landen. Unlängst machte die taz diese Entsorgungsaktionen in der westukrainischen Stadt Luzk zum Thema und erntete empörte Reaktionen. Der Subtext: faschistisches Gedankengut in der Ukraine, was sonst. Man sah sie vor sich – gänsehäutige Le­se­r*in­nen, lodernde Bücherberge vor Augen.

Mit derartigen Assoziationen, sind sie allerdings in bester Gesellschaft. Im November 2022, bei einem Treffen des Waldei-Klubs in Moskau, holte Wladimir Putin zu einem Rundumschlag aus. Die Nazis seien seinerzeit so weit gegangen, dass sie Bücher verbrannt hätten, nun seien die westlichen „Förderer von Liberalismus und Fortschritt so weit gegangen, Dostojewski und Tschaikowski zu verbieten. Diese cancel culture, die Abschaffung der Kultur, raube alles Lebendige und Schöpferische und lasse das freie Denken nicht zur Entfaltung kommen, sagte Putin. Es lohnt, hierzu den russischen Regisseur Kirill Serebrennikow zu hören. Der verbrachte 2018 „nur“ anderthalb Jahre im Hausarrest. Heute würde er, hätte er Russland nicht verlassen, wohl im Gefängnis sitzen – auch wegen seines beim diesjährigen Fimfestival in Cannes uraufgeführten Films „Tschaikowkys Frau“, der die schwule Identität des Komponisten thematisiert.

Apropos Tschaikowsky, Pusch­kin und Dostojewski: Niemand muss der Kulturpolitik der Ukraine zustimmen. Angesichts des Grauens, mit dem Russland das Nachbarland überzieht, ist die Abgrenzung verständlich. Dessen ungeachtet krankt die Debatte jedoch daran, dass es an der notwendigen Differenzierung fehlt. Dass russischen Künstler*innen, die sich Putin angedient haben, nicht der rote Teppich ausgerollt werden sollte, versteht sich von selbst. Die russische Sprache? Sie ist, nicht nur in der Ukraine, ein Politikum. Denn zu Sowjet­zeiten genauso wie heute wird sie als Instrument genutzt, um Russlands Herrschaftsanspruch gegenüber anderen Völkern und Kulturen, wenn nötig mit Gewalt, durchzusetzen.

Aber Komponisten wie Tschaikowsky in Sippenhaft nehmen? Eindeutig nein. In Großbritannien beispielsweise wird ein Ballett „Nussknacker“ ganz bewusst aufgeführt. Die Präsentation solle ein starkes Statement aussenden, dass Tschaikowskys Werke die ganze Menschheit ansprechen, in kraftvollem Gegensatz zum nationalistischen Blick des Kreml auf die Kultur, sagte ein Sprecher des Londoner Royal Ballet. Recht so.

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Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

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