Rückkehr zum Tourismus in Italien: Warten auf Gäste
Die Sonnenschirme stehen im Viermeterabstand, Fußball ist verboten, Strandtennis erlaubt: Italien bereitet sich auf die Sommersaison vor.
G iancarlo Farnetani beobachtet skeptisch die Wellen, die über den Sand schwappen. Seit Tagen läuft er über den Strand, wo die Badeanlagen für die Sommersaison aufgebaut werden. „Was soll ich im Büro?“, fragt er. „Das hier ist wichtiger.“ Der große, weißhaarige Mann ist seit 25 Jahren Bürgermeister des toskanischen Küstenorts Castiglione della Pescaia, wo jährlich rund 400.000 Deutsche urlauben. An einem Juniwochenende wie diesem könnte sich Farnetani normalerweise am voll belegten Strand kaum einen Weg bahnen, heute geht das mühelos.
Die Auswirkungen der Viruskrise auf seine Gemeinde bereiten Farnetani Sorgen, aber auch die Überschwemmungen der letzten Tage. „Die Leute hatten gerade ihre Bars und Liegestühle aufgebaut, und jetzt können sie noch mal von vorne anfangen.“ Der Strand der Badeanlage ist schon wieder aufgeräumt, das angeschwemmte Strandgut säuberlich zu Häufchen zusammengerecht.
Alles ist vorbereitet für die ersten Badegäste aus Deutschland und dem Rest Europas. Die Sonnenschirme stehen im vorgeschriebenen Abstand von vier Metern. Die Liegen müssen reserviert und wie Duschen und Klos regelmäßig desinfiziert werden. Fußball ist verboten, Strandtennis erlaubt. Wer sich sonnt und badet, benötigt keine Maske. Sie muss nur griffbereit sein.
An diesem Tag genießen vor allem die Einheimischen ihren Strand und die neu gewonnene Freiheit nach dem Lockdown. Ein Junge beißt in seine Pizza, seine Mutter löst Kreuzworträtsel. Zwei Biker schälen sich aus ihren Mikrofaserklamotten. Alles scheint fast normal, zumindest für die Badegäste.
Die Welt von oben zu zeigen, ist Kacper Kowalskis Spezialität. „Sommerzeit“ hat er die Fotoarbeit genannt, die wir in unserem Reisedossier vorstellen. Mit seiner Drohne schaut er auf die flirrende Welt an den Stränden seiner polnischen Heimat, die sich täglich mit Sonnenhungrigen füllen. Sie tummeln sich im Wasser des Baltischen Meers, nehmen Wind und Wasser mit ihren Fahrzeugen auf oder dösen im Sand. Ein Gewirr von farbigen Objekten. Wie eine bunte Spielzeugwelt scheinen die Ausflüge zum Open-Air-Konzert mit unzähligen Zelten und Autos. Seltsame Überbleibsel, Fußstapfen im Sand, Spaziergänger, die lange Schatten werfen, wenn es Abend wird. Das alles ordnet Kacper Kowalski für uns zu sommerlicher Leichtigkeit. Petra Schrott
Von Normalität zum finanzellen Ruin
Doch für die Tourismusbranche ist in diesem Jahr gar nichts normal. Täglich demonstrieren in Mailand, Venedig, Rom und Neapel Betreiber*innen und Angestellte von Reiseagenturen, Busunternehmen, Hotels. Sie fordern von der Regierung ein effizientes Rettungspaket. Für Kultur und Tourismus sollen insgesamt gerade mal 5 Milliarden Euro lockergemacht werden, das ist weniger als der Hilfskredit an den Autokonzern Fiat-Chrysler, der seinen Hauptsitz längst nach Amsterdam verlegt hat.
Dabei bezeichnete die Wirtschaftszeitung Ilsole24ore die Reisebranche noch zu Beginn des Jahres als das „Erdöl Italiens“. Der Tourismus beschäftigte im Jahr 2019 4,2 Millionen Menschen und erwirtschaftete 13,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: In Spanien sind es 14,6 und in Deutschland 8,6 Prozent. Vor allem Städte wie Rom und Venedig, die in den letzten Jahren zur Standardroute der Billigflieger und der Kreuzfahrtschiffe gehörten, stehen jetzt vor einer Katastrophe.
Roms Innenstadt bleibt leer
In der Via del Lavatore, die im Stadtzentrum Roms zum legendären Trevibrunnen führt, muss man sich normalerweise mühsam an lärmenden Touristenmassen vorbeidrücken. Jetzt ist es still, nur ein paar Bars und chinesische Souvenirläden haben geöffnet. Während das Leben und die Lokale in den Wohnvierteln der italienischen Hauptstadt wieder Fahrt aufnehmen, gibt es in der Innenstadt so gut wie keine Gäste. „Wir werden vorerst nicht öffnen“, sagt ein Restaurantbesitzer, der zwischen aufgestapelten Tischen steht. „Vielleicht machen wir auch erst nächstes Jahr auf.“ 80 Prozent seiner Gäste seien US-Amerikaner, erklärt er.
Wo wie in Castiglione della Pescaia eine frische Brise weht und die Sandstrände lang und breit sind, sieht man das anders. „Hier haben alle gemeinsam wieder aufgemacht. Und jetzt warten wir“, erklärt Bürgermeister Farnetani. Es soll Hoffnung signalisieren für die Menschen, die hier arbeiten und bereits Ostern und Pfingsten keine Einnahmen hatten. Fast alle kommen aus dem Ort oder aus der Gegend, auch die Familie Pieraccini, die das Bagno Castiglionese seit über 30 Jahren betreibt. Vor ihrer weiß gestrichenen Bar hängt ein Schild mit dem Hinweis „plastic free“. Darauf sind hier alle stolz.
Das Territorium von Castiglione della Pescaia – zu dem lange Strände, ein Hafen, ein mittelalterlicher Stadtkern, die Landzunge Punta Ala und auch die Etruskerstadt Vetulonia gehören – war die erste plastikfreie Gemeinde in Italien. Auch das 156 Kilometer lange Radwegenetz ist Teil des umweltfreundlichen Tourismuskonzepts des Ortes, das nun für andere italienische Küstenstädte ein Modell werden soll. Bürgermeister Farnetani koordiniert dieses Jahr die Initiative „G20 spiagge“, in der sich 20 Badeorte zusammengetan haben. Sie suchen Unterstützung für die Förderung eines nachhaltigen Küstentourismus – nicht nur bei der Regierung in Rom, sondern auch beim Europaparlament.
Saubere Campingplätze für lokale Touristen
Die Maremma ist die südlichste Gegend der Toskana und der respektvolle Umgang mit der Natur seit Langem ein Markenzeichen des lokalen Tourismus. Es gibt mehr freie und dennoch gepflegte Strände als in anderen Regionen, außerdem Gärten, Wein- und Sonnenblumenfelder, große Pinienhaine. Diese stehen zum Teil unter Naturschutz, zum Teil dürfen sie als Campingplätze genutzt werden.
Im Umland der Lagunenstadt Orbetello, die von Castiglione della Pescaia auf der Schnellstraße in Richtung Rom erreicht wird, schlagen im Camping Africa nicht nur ausländische Reisende auf. „Wir haben im Moment vor allem für unsere Stammgäste geöffnet“, erklärt Alessio Albertazzi, ein junger Manager, der Campingplätze, Hotels und Ferienwohnanlagen verwaltet, die sich unter dem Namen Maremmavacanze zusammengeschlossen haben.
Er öffnet einen Waschraum, in dem die Laufwege penibel vorgezeichnet sind. Nur jedes zweite Waschbecken darf benutzt werden. Viermal am Tag wird mit Trockendampf desinfiziert. Die Gäste bekommen bei der Ankunft ein Blatt mit Covid-19-Verhaltensvorschriften in die Hand gedrückt. „Ehrlich gesagt habe ich mehr Angst vor der Bürokratie als vor dem Virus“, gesteht Albertazzi. Aber das nur so am Rande, denn am Ende sind er und die anderen gut auf die sehnlichst erwarteten Gäste vorbereitet. Und der dicke Mann, der gerade fluchend sein Zelt aufrollt, erzeugt fast ein Gefühl von Normalität.
Weit weg vom Normalbetrieb
Dies will sich in den Hotels noch nicht einstellen. Das I Presidi an der Lagunenpromenade von Orbetello ist das größte Haus am Platz. Auch hier ist alles penibel geregelt, der Service perfekt wie immer. Trotzdem wurden fast alle Buchungen während des Lockdowns storniert, neue treffen nur zögerlich ein. Hotelbesitzer Fabrizio Mari zahlt weiter Miete und Personal, Geld vom Staat erhält er nicht. „Das haben wir der Lombardei zu verdanken, die erst das Virus im Land verbreitet hat und jetzt Zuschüsse für ihre Industrieunternehmen kassiert“, schimpft er. Zudem muss die Hotelbranche den Run auf die Ferienhäuser verkraften, weil viele Reisende denken, dass sie dort vor dem Virus sicherer seien und sich freier bewegen könnten. „Ich glaube kaum, dass dort so oft und professionell desinfiziert wird wie bei uns“, sagt Mari.
Mehr Bewegung gibt es dagegen in den Restaurants, denn auch viele Einheimische sind froh, dass sie mal wieder auswärts essen können. Die Maske darf man am Tisch ablegen, Kontaktdaten sind in italienischen Lokalen nicht erforderlich. In der Trattoria Ovosodo an der Piazza Mario Cortesini von Orbetello scheint der Kellner allerdings täglich schmaler zu werden, weil er mit Maske bestimmt hundert Kilometer am Tag zurücklegt, ein ewiges Gerenne zwischen drinnen und draußen, bis er die Tische desinfiziert, eingedeckt, serviert und wieder abgeräumt hat.
Alessio Albertazzi, Tourismusmanager
Gastronomen werden kreativ
Andere hingegen lassen sich neue Geschäftsideen einfallen – wie das Fischrestaurant Oste Dispensa auf der Landzunge Giannella. Das Lokal hat kurzerhand eine mobile Küche eingerichtet und bedient jetzt die Badegäste direkt am Strand. Das Slow-Food-Restaurant beteiligt sich wie rund tausend andere an dem Projekt Vetrina Toscana, mit dem die Region allen eine Plattform zur Verfügung stellt, die lokale Küche und Spezialitäten anbieten, auch Geschäften und Produzenten.
Einen ähnlichen Service gibt es auch für Hotels und alle anderen Strukturen auf der regionalen Website Visit Tuscany, wo auch gebucht werden kann. „Es ist ein alternatives Angebot zu den Online-Agenturen, die den Gewinn ihrer Kunden beträchtlich schmälern“, sagt Stefano Ciuoffo, Tourismusbeauftragter der Region Toskana.
Doch nicht nur die multinationalen Ketten sahnen ab, sondern zunehmend auch die Mafia. Ein aktueller Bericht der italienischen Polizei warnt davor, dass kriminelle Organisationen aus der gegenwärtigen Krise des Tourismus Profit schlagen werden. Nur sie verfügen im Moment über überschüssiges Kapital, um es in die Unternehmen verzweifelter Hoteliers, Strandbarbetreiber und Restaurantbesitzer zu investieren. Diese Infiltration kann nur die Politik mit sofortigen Kapitalspritzen und pragmatischen Hilfsprogrammen verhindern und vielleicht auch ein Bürgermeister, der die Strände und den Rest seines Territoriums fest im Blick hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid