Corona in Italien: Systematische Herzlosigkeit
Angehörige von Covid-19-Toten in Bergamo haben eine Sammelklage eingereicht. Sie wollen, dass Verantwortliche für das Desaster juristisch belangt werden.
Aber auch eines der zehntausenden Opfer eines Gesundheitssystems, das, wie Cristina glaubt, in der Krise dramatisch versagt hat. Am Mittwoch fanden sich einige Dutzend Personen im Justizpalast von Bergamo ein, um die ersten 40 Klagen einzureichen – vorerst gegen unbekannt. Die Initiative geht zurück auf die Gruppe „Wir zeigen an“, in der sich mittlerweile mehr als 55.000 Angehörige von Coronatoten in Italien zusammengefunden haben.
Alle diese Menschen wollen Klarheit. Sie wollen wissen, warum ihre Väter oder Großmütter, ihre Brüder oder Schwägerinnen oft tagelang darauf warten mussten, dass ein Arzt sich überhaupt bereit zeigte, sie zu untersuchen. Warum weder eine adäquate häusliche Behandlung noch auch eine Einweisung in eine Klinik möglich war. Und warum oft genug die Angehörigen ihrerseits nicht auf das Virus getestet wurden.
Gegründet wurde die Gruppe in Bergamo von dem Steuerberater Luca Fusco und seinem Sohn Stefano. Ihr Vater beziehungsweise Opa wurde binnen weniger Tage von Covid-19 hinweggerafft. Er sei zwar schon 85 Jahre alt gewesen, aber nach Auskunft der beiden alles andere als gebrechlich. Sie riefen zunächst eine Facebook-Gruppe ins Leben und tausende Menschen schlossen sich an.
Keine Entschädigungen
Sie alle eint ein Ziel: „Wir wollen keine Entschädigungen.“ Stattdessen gehe es darum, dass die Verantwortlichen des Desasters strafrechtlich zur Verantwortung gezogen würden. Luca Fusco stellt klar: Gemeint seien nicht die Ärztinnen oder Krankenpfleger. Gemeint seien die administrativ und politisch Verantwortlichen des Gesundheitswesens, in Bergamo, in der Lombardei, in ganz Italien.
Die Stadt und die Provinz Bergamo wurden so heftig wie kein anderer Ort in Italien von der Coronapandemie getroffen. Das Bild der langen Kolonne von Lkws, die in der Nacht des 18. März am örtlichen Friedhof vorgefahren waren, um Dutzende Särge in die Krematorien anderer italienischer Städte zu bringen, ging um die Welt.
Auch Cristina Longhinis Vater war in einem der Särge, die die Reise durch Italien antraten. Nach dessen Tod bekam sie im Krankenhaus einen Müllsack mit seinen Habseligkeiten ausgehändigt, „darin seine Tasche mit seinen Sachen, auch einem Unterhemd mit einem enormen Blutfleck: infektiöses Material“. Die Spur der Leiche des Vaters verliert sich dagegen. Tage vergehen, bis die Familie erfährt, dass er in Ferrara eingeäschert wurde.
Die Unfähigkeit eines Systems, das gerade in den ersten Wochen keine adäquate Behandlung garantieren konnte, eines Systems, in dem die Angehörigen in den Apotheken der Umgebung auf eigene Faust die Suche nach Sauerstoffflaschen aufnehmen mussten, weil der Gesundheitsdienst bloß das Rezept ausstellte. Diese Unfähigkeit verband sich nach den Aussagen vieler der Mitglieder von „Wir zeigen an“ mit einer ebenso systematischen Herzlosigkeit.
Fragen über Fragen
Mehr als 34.000 Covid-19-Opfer zählt Italien mittlerweile offiziell, nach den Auswertungen der Sterbestatistiken der vergangenen Jahre waren es aber wohl eher 50.000. Gut 16.000 Tote sind allein in der Lombardei zu beklagen.
Die Kläger*innen wollen jetzt Auskunft erhalten: Warum zum Beispiel wurde Ende Februar vor den Toren Bergamos, in Alzano Lombardo, nach der Diagnose eines Covid-19-Falls das dortige Krankenhaus nach nur wenigen Stunden wieder geöffnet? Warum wurde in der Val Seriana trotz des geballten Auftretens von Fällen Anfang März keine Rote Zone eingerichtet?
Warum versagte die hausärztliche Betreuung in der Lombardei, die auf dem Höhepunkt der Krise nur noch in Telefonsprechstunden mit der Verordnung von Schmerzmitteln bestand, völlig? Und wer trägt die Verantwortung dafür, dass in den Altenheimen keine Schutzmaßnahmen ergriffen wurden? Auf die 40 ersten eingereichten Klagen sollen in den nächsten Tagen 150 weitere folgen.
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