Romane über Jugend in Ostdeutschland: Wie geil böse wir waren

Romane über die Baseballschlägerjahre: Hendrik Bolz, Daniel Schulz und Domenico Müllensiefen vermeiden zum Glück lustvolle Gewaltpornos.

Ein alter Trabbi steht in der Landschaft, auf die Kofferraumhaube ist ein Hakenkreuz gemalt

Ausrangiert: Vor gut drei Jahren gab es eine Zäsur im Ostdiskurs. Jetzt sind die Romane da Foto: Jörg Böthling/imago

Manche Dialoge können Welten eröffnen. In einer Szene aus Domenico Müllensiefens Roman „Aus unseren Feuern“ sitzt sein Protagonist Heiko, ein Leipziger Ende 20, seine Zeit in einem Bewerbungstraining ab, das ihm das Arbeitsamt verdonnert hat.

Ein Teilnehmer des Workshops verliert die Nerven: Die ganze Scheiße würde doch eh nichts bringen. „Lieber Christian!“, versucht ihn die Leiterin zu mäßigen. „Halt die Fresse! Ich bin nicht der liebe Christian! Ich bin Christian Köhler!“, ruft er ihr entgegen. „Ich will Ihnen nur helfen, eine Arbeit zu finden!“, sagt sie, aber er tickt richtig aus.

„Was ist mein Beruf?“, fragt er. Sie weiß es nicht.

Christian Köhler verlässt den Raum. Vom Parkplatz brüllt er: „Ich bin Zimmermann! Du Nutte!“ Dann quietschen die Reifen, und Christian Köhler ist weg. In seinem heißen, schlimmen, verletzten Zimmermannsstolz. Ostmännerstolz.

Domenico Müllensiefen: „Aus unseren Feuern“. Kanon Verlag, Berlin 2022, 336 Seiten, 24 Euro

Den Debütroman des Leipzigers Domenico Müllensiefen, geboren 1987 in Magdeburg, kann man als Teil einer kleinen Veröffentlichungswelle sehen: Es ist das Frühjahr der Ostjugendbücher. Hendrik Bolz, eine Hälfte des Rap-Duos Zugezogen Maskulin, veröffentlichte mit „Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften“ ein Memoir über das von Brutalität und Drogen geprägte Aufwachsen in Mecklenburg-Vorpommern. „Wir waren wie Brüder“, der Debütroman des taz-Redakteurs Daniel Schulz, nimmt die späten 80er und 90er in Brandenburg in den Blick.

Interesse und Unbehagen

Dem Ostbuchfrühling schaute ich – geboren und aufgewachsen in Sachsen – mit Interesse, aber auch Unbehagen entgegen, ganz so, wie ich auch die Debatten zum Thema verfolge. Mit ewiger Unzufriedenheit auch, weil es niemand richtig machen kann. Nicht die mit den arroganten Die-da-drüben-Witzen. Aber auch nicht diejenigen, die so dringend „positive Geschichten“ aus dem Osten erzählen wollen, dass sie im schlimmsten Falle die Kontinuität und spezifisch ostdeutsche Geschichte rechter Gewalt unsichtbar machen.

Vor rund drei Jahren gab es eine Zäsur im Ostdiskurs. Daniel Schulz’ Essay „Wir waren wie Brüder“, erschienen in dieser Zeitung, und Hendrik Bolz’ Text „Sieg-Heil-Rufe wiegten mich in den Schlaf“ aus dem Freitag läuteten eine Debatte über die Normalität von Nazigewalt in den ostdeutschen 00ern und 90ern ein – den „Baseballschlägerjahren“, wie der Journalist Christian Bangel sie nannte.

Auf einmal war eine Tür aufgestoßen, um offen über die Nachwendezeit sprechen zu können. Auf einmal sprach auch ich von Abenden, an denen ich bei der Autofahrt zu McDonald’s lieber nicht so genau wissen wollte, was der glatzköpfige Bekannte meiner Freundin eigentlich über Migranten denkt. Das war wichtig. Diese Geschichten zu erzählen, ist unerlässlich. Sie sind aber – für Leute wie mich, die jetzt in Berlin am Macbook sitzen – auch entlastend. Auf eine nicht ungefährliche Weise.

Prügeleien und Trinksprüche

Denn ja, es kann sich gut anfühlen, wenn die Erleichterung, die einem Ehrlichkeit und öffentliches Bußetun verschaffen, auf den Thrill treffen, die Brutalität der eigenen Jugend – nach all den Jahren Besserwissen! – noch mal in ihrer ganzen Drastik zu benennen.

Schaut mal, wie geil böse wir waren. Und nun lobt uns, weil wir jetzt die Guten sind.

Manchmal erzählten Teil­neh­me­r:in­nen von Ost-Debatten in Tweets oder Privatgesprächen – auch ich selbst – rückblickend ein bisschen zu angeregt von Prügeleien und antisemitischen Trinksprüchen. Was würde passieren, wenn diese Angeregtheit lustvolle fiktionale Texte abwerfen würde?

Es besteht eine Gefahr, beim literarischen Schreiben über die „Baseballschlägerjahre“ und ihren Nachhall versehentlich den Nachwende-Ost-Porno erfinden. Die Veröffentlichungen dieser Saison sind unter diesem Blickwinkel ein Erfolg. Auch wenn etwa Bolz die Gewalt seiner Jugend leidenschaftlich lautmalerisch beschreibt, zoomt er meist rechtzeitig wieder raus, auf die Politik- und Gesellschaftsebene.

Eine Großstadtgeschichte

Domenico Müllensiefens „Aus unseren Feuern“ fällt auf im Ostbuchfrühling. Weil er keine Provinz-, sondern eine Großstadtgeschichte erzählt, und weil Ostdeutschland eben kein einheitlicher Erfahrungsraum ist. Vor allem aber ist der Roman keine „Milieu-Aussteiger-Story“, gleich denen, zu denen ich mich schon habe hinreißen lassen. Kein Zeitstrahl führt vom Gestern in eine Gegenwart, in der ein Protagonist zwar nicht mehr mit Nazis und Arbeitslosigkeit, dafür aber mit Identitätskrisen kämpft. Sein Heiko ist geblieben, wo er aufgewachsen ist.

Seine Gegenwart um 2014, in der er als Bestatter zu Romanbeginn einen alten Freund tot von der Straße bergen, mit den Gespenstern der Vergangenheit kämpfen muss, und eben dieses Gestern sind im Roman verflochten. Immer wieder lässt Müllensiefen Heiko scheitern, ohne ihn zur Witz­figur zu machen.

In seinen Leipziger Nullerjahren marschieren nicht pausenlos Skinheads auf. Härte lernen Heiko und seine besten Freunde Thomas und Karsten auch so: bei Kollegen und Vätern, die das Aufwachsen in der DDR taff und die Wende hat bitter werden lassen. Was den Roman so besonders macht, sind vor allem seine Dialoge und Nebenfiguren. Zum Beispiel Mandy, die ehemalige Schulschönheit, auf der große Erwartungen ruhten: Sie soll es „nach drüben“ schaffen. Wie ein geprügelter Hund kehrt sie nach Leipzig zurück, nachdem sie in Bayern, wo sich alle über ihren Dialekt lustig machen, keinen Fuß in die Tür bekommen hat. „Es lag daran, dass Mandy, egal wo sie war, sich fremd fühlte“, schreibt Müllensiefen.

Ungewöhnliche Vita

Müllensiefen selbst hat eine Vita, wie man sie im Literaturbetrieb nicht oft sieht. Er wuchs auf einem Bauernhof in der Altmark auf, zog mit 16 nach Magdeburg und machte eine Ausbildung zum Systemelektroniker. 2006 ging er nach Leipzig, um in seinem Lehrberuf zu arbeiten. Später wurde er dort am Literaturinstitut angenommen. Während des Studiums arbeitete er als Bestatter, seit 2016 wieder als Elektroniker. Und schreibt nun eben auch. Immer noch in Leipzig. „Den Osten zu verlassen kam für mich nie in Frage“, schreibt er auf seiner Website mit der schönen Domain „muskeldomingo.de“.

Seinen Heiko lässt er als Schüler im Schlachtbetrieb von Thomas’ Vater jobben, eine Ausbildung zum Elektriker machen, Bestatter werden. Immer sind es die Passagen aus seinem Berufsalltag, die Müllensiefen so detailreich schildert, als seien die Tätigkeiten ein heiliges Ritual. Was entsteht, ist eine Art Working-Class-Leipzig Noir: Bei aller Gleichförmigkeit, bei allem Gerauche und Getrinke geht es immer auch um Leben und Tod, um die Beschaffenheit von Körpern und deren Vergänglichkeit.

Sicher fragt man sich ab und zu, ob man so genau wissen will, wie ein Darm gespült und eine Leiche zerteilt wird, aber hey, wer durch Plattenbaufenster in „die Ostseele“ gucken will, sollte sich wohl damit befassen, womit diese Ostseelen ihr Gehalt verdienen. Überhaupt interessiert sich Müllensiefen für Besitzverhältnisse. Für die Frage, wer nach der Wende plötzlich die Fabriken besaß, wer die Altbauviertel in Leipzig überrannte. Es ist ein Glück, dass seine Beobachtungen so fein gezeichnet, die Figuren so tief sind, dass man nicht mit der Gewissheit zurückbleibt: Mit mehr Geld wäre hier wirklich alles anders. Zwar ist es auch das Treuhand-Trauma, das eine der Figuren in den Sumpf rechtsradikaler Verschwörungsmythen führt; als gottgegeben wird der Weg nicht gezeichnet.

Sich die Wege selbst verbauen

Selten hat es ein Text dafür geschafft, so plausibel zu erklären, wie die Wende-Euphorie bei vielen Ost-Millennials in Lethargie umschlagen konnte. Wie die komplizierte Verflechtung aus Fremdbestimmungserfahrungen, Abwertungsangst, Trotz und ganz aktiver Politikverweigerung dazu führen, dass sich die Protagonisten die Wege, die ihnen offenstehen, manchmal selbst verbauen. Die Teenager Heiko, Thomas und Karsten wollen „ihre Feuer zünden“, wie sie immer wieder sagen. Und können nicht. Also wollen sie irgendwann alles brennen sehen.

So, wie einst eine Industrie um den Wenderoman entstanden ist, wird wohl auch der „Baseballschlägerjahre“- oder Nullerjahre-Roman weiter florieren. Mit seiner präzisen, oft rauen, ganz beiläufig zärtlichen Sprache hat Müllensiefen schon mal gezeigt, wie man vermeidet, was mir an den Nachwendefestspielen Unbehagen bereitet: Nie wird Gewaltvolles zu lustvoll inszeniert. Nie versucht, „den Osten“ als Staffage für ein Sozialdrama zu benutzen. Gleichzeitig gesteht er sich auch in einer Coming-of-Age-Story nie so viel Elegie zu, dass man naiv rührselig draufkommt ob der vergangenen, brutalen, aber doch auch aufregenden Tage im großen Möglichkeitsraum Ostdeutschland.

„Aus unseren Feuern“ ist der wohl seltsamste Roman des Nachwendebuchfrühling. Gerade, erklärt Müllensiefen auf „muskeldomingo.de“, sitzt er an einem Text übers Dorf.

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