Romanì in Italien: „Man sieht es ihnen ja nicht an“
Aus Angst vor Diskriminierung verleugnen viele Romanì in Italien ihre Herkunft. Denn in der Bevölkerung halten sich hartnäckig gefährliche Vorurteile.
In einem Punkt hat die ältere Dame recht: Immer mal wieder sieht man in der italienischen Hauptstadt Roma, die von Müllcontainer zu Müllcontainer ziehen, mit einer Eisenstange in den Abfällen herumstochern, dann abgetragene Gymnastikschuhe, zerschlissene Jacken, leere Bilderrahmen oder Metallteile herausfischen und die spärliche Beute auf einem alten Kinderwagen verstauen.
Doch von dem Einwand, dass der Dreck rund um die Tonnen gar nicht von den Menschen angerichtet wird, sondern von den zahlreichen Möwen, die auf der Suche nach Essbarem die Mülltüten zerfetzen, will die Dame nichts wissen. „Das waren die ‚Rom‘ (so werden in Italien die Roma genannt), und wenn sie nicht die Straßen versauen, sind sie als Taschendiebe unterwegs!“, giftet sie weiter.
Die Frau steht mit ihren Aussagen für den italienischen Mainstream. In kaum einem anderen westeuropäischen Land stoßen die Roma und Sinti auf so heftige Ablehnung wie in Italien. Vor einigen Jahren bekannten sich 85 Prozent der Italiener*innen in einer Umfrage des Pew Research Center zu einer „negativen Sicht“ dieser Community. Und 2023 fand das Institut EMG in einer in Rom durchgeführten Befragung heraus, dass knapp 70 Prozent der Menschen dort die Romanì – dies ist der Sammelbegriff, den Sinti, Roma und andere Untergruppen für sich benutzen – für „eine Bedrohung“ halten.
Staatlich organisierte rassistische Segregation
Dabei leben gerade einmal 140.000 bis 180.000 Romanì in Italien. Rund die Hälfte, schätzungsweise bis zu 100.000, sind italienische Staatsbürger*innen, deren Vorfahren schon seit 600 Jahren im Land leben, schätzt Santino Spinelli. Spinelli selbst stammt aus einer alten Romanì-Familie. Der 59-Jährige ist erfolgreicher Musiker, Universitätsdozent und einer der Gründer der UCRI, der Unione Comunità Romanes in Italia. Vor allem in den neunziger und nuller Jahren kamen Romanì vom Westbalkan, aus Rumänien oder Bulgarien nach Italien.
Der Staat reagierte auf den Zuzug mit einer Maßnahme, die in Westeuropa ihresgleichen sucht: Quer durchs Land, vorneweg in Großstädten wie Rom, errichtete der Staat öffentlich verwaltete Roma-Camps – und es entstanden weitere sogenannte „informelle“ Camps. „Das war ein klarer Fall von rassischer Segregation“, sagt Spinelli. Befördert wurde das ganze dadurch, dass sich die Millionensummen kostenden Camps als hervorragende Einnahmequelle für kriminelle Organisationen entpuppten, die zum Beispiel in Rom im besten Einvernehmen mit Menschen aus der Politik agierten.
Ein solches Camp war das „Dorf der Solidarität“ – so lautete der zynische Name – in Castel Romano. Die Containersiedlung wurde im Jahr 2005 errichtet und lag im Nirgendwo außerhalb der Stadt, an einer Ausfallstraße weitab von anderen Wohngebieten. Zu Spitzenzeiten wohnten hier etwa 1.200 Menschen, die vor allem aus Ex-Jugoslawien gekommen waren. Begründet wurde diese Politik häufig damit, dass die Ankommenden ja Menschen seien, die an einer regulären Wohnung gar nicht interessiert seien. Als „nomadi“ wurden sie im Italienischen bezeichnet.
Für Spinelli ist diese Behauptung blanker Unsinn, die Menschen, die vom Balkan immigriert seien, hätten schließlich in ihrer Heimat einen festen Wohnsitz gehabt. Dennoch hält sich der Begriff „nomadi“ ganz selbstverständlich als Synonym für Roma oder – bis heute in der Alltagssprache gebräuchlich: Zingari. Doch nur 2 Prozent der in Italien lebenden Romanì sind wirklich Reisende.
In den Camps lebt nur eine Minderheit
Zu Hoch-Zeiten lebten rund 40.000 Menschen in den „Roma-Camps“. Heute sind es immer noch knapp 18.000, 11.500 in öffentlich eingerichteten, 6.500 in „informellen“ Camps. So niedrig diese Zahl auch ist, so viel – negative – Sichtbarkeit verleiht sie den dort Wohnenden doch vor allem in den Großstädten, insbesondere in Rom. Gerade die informellen, vom Staat lediglich tolerierten Lager sind Orte des schieren Elends, mit ihren Holzbaracken und Wellblechhütten, ohne Strom und Wasser – und ohne Müllabfuhr.
Die, die in den Camps leben, sind nur eine kleine Minderheit. Über 90 Prozent der Romanì leben in Häusern und Wohnungen, gehen ihrer Arbeit nach, während ihre Kinder die Schule besuchen. Meist weiß keiner aus der Nachbarschaft von ihrem ethnischen Hintergrund. „Man sieht es ihnen ja nicht an, und viele von ihnen stammen aus Familien, die seit Jahrhunderten italienisch sind“, sagt Spinelli. Hinzu kommt, dass die meisten dieser Romanì ihre Herkunft für sich behalten. Aus Angst vor Diskriminierung.
Die Herkunft konnten und können dagegen diejenigen nicht verbergen, die in den Camps leben müssen. Vor allem in den nuller Jahren wurde ihnen ihre Sichtbarkeit mehrfach zum Verhängnis. Als im Oktober 2007 ein 24-jähriger Roma aus Rumänien eine Römerin vergewaltigte und ermordete, entfesselte die Mitte-links-Regierung unter Romano Prodi ebenso wie Roms linker Bürgermeister Walter Veltroni eine brutale Hetze auf Roma. Prodi ließ damals ein Eildekret verabschieden, um osteuropäische Roma ohne viel Aufhebens aus dem Land werfen zu können. Veltroni ordnete die Räumung diverser informeller Camps an.
Noch schlimmer kam es im Mai 2008 in Neapels Stadtviertel Ponticelli. Dort beschuldigten zwei Neapolitanerinnen ein 15-jähriges Roma-Mädchen, es habe aus ihrer Wohnung ein Baby entführen wollen. Das Mädchen wurde verhaftet, und umgehend zogen mehrere hundert Menschen zum nahen Roma-Camp. Der Mob fackelte das Camp ab, ohne dass die Polizei eingriff.
Bis heute keine Erinnerung an Vernichtung in NS-Zeit
Möglich war dieser Pogrom, weil tatsächlich auch heute noch vielen Italiener*innen die Behauptung, dass „Roma Kinder stehlen“, ganz selbstverständlich über die Lippen geht. Eine Behauptung, erklärt Santino Spinelli, die die Romanì in Zeiten des Faschismus zum leichten Opfer der Deportationen aus Italien in die deutschen Vernichtungslager werden ließ. Bis heute erinnert der italienische Staat nicht an die Vernichtung der Roma und Sinti in der NS-Zeit.
Spinellis Gedicht „Auschwitz“ ist dagegen auf dem im Jahr 2012 im Berliner Tiergarten eingeweihten Mahnmal für die Naziopfer aus den Reihen der Sinti und Roma verewigt. Während Italiens Politikerinnen zwar regelmäßig an die Schoah, nie aber an den Samudaripen erinnern, nämlich an die Tatsache, dass die Nazis auch 500.000 Romanì ermordeten.
Wenigstens zum 8. April, ergänzt Spinelli dann noch, steige mittlerweile die Aufmerksamkeit für Roma und Sinti. Er selbst und sein Sohn werden im Rahmen der Feierlichkeiten am 10. April in Mailand ein Konzert geben, nicht irgendwo, sondern in der Mailänder Scala, dem Tempel der Oper und der klassischen Musik. „Das hat es noch nie gegeben in 600 Jahren: dass zwei Romanì-Musiker als Solisten an einem Ort wie der Scala auftreten, begleitet vom Symphonieorchester, um Roma-Musik zur Aufführung zu bringen.“ Seine Freude und sein Stolz sind groß.
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