Roman „Sechs Koffer“ von Maxim Biller: Fragen an den Tod des Großvaters
Maxim Biller erzählt in seinem aktuellen Roman „Sechs Koffer“ von Familie, Verrat und vom Antisemitismus in sozialistischen Ländern.
Wie sehr darf man sich der Wahrheit – und den Lügen – seiner eigenen Familie, seiner Freunde, seiner Kultur und seiner nationalen Geschichte eigentlich nähern? Wie deutlich darf man dabei werden?
Wie überirdisch schön und poetisch muss man schreiben, damit trotzdem jeder versteht, dass man es nicht auf reale Personen und Ereignisse abgesehen hat, sondern nur darüber sprechen will, dass es jenseits der Wirklichkeit eine Sphäre gibt, in der sich die Tragödien und Komödien unserer Leben derart spiegeln, dass man sich in ihnen nicht so sehr selbst wiedererkennt, sondern nur die lächerliche, sinnlose, herrliche Schönheit dieses absolut überflüssigen Daseins, dessen wichtigste, moralisch widersprüchlichste, herzergreifendste Protagonisten natürlich unsere Väter und Mütter sind?“
Es waren rhetorische Fragen, die Maxim Biller vor Kurzem in seiner Heidelberger Poetikvorlesung stellte. Nicht so genau hinsehen, nicht allzu deutlich werden zu wollen ist das Letzte, was man Biller vorwerfen kann. Der Kolumnist und Kritiker Biller macht sich regelmäßig unbeliebt, indem er alles hinterfragt und auch die eigenen Freunde und Verbündeten schonungslos attackiert.
Was seine Kritik am Konsens und seine Angriffe auf den Komment in seinen „Nudnik-Artikeln“, wie er sie nennt, manchmal so brutal erscheinen lässt, bringt seine literarischen Texte zum Leuchten, die er „forschende Fiktionen“ nennt. „Nudnik“ ist jiddisch und meint einen Menschen, der nervt, weil er ständig bohrt und unliebsame Fragen stellt: Nu, nu, nu, sag doch mal!
Maxim Biller: „Sechs Koffer“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 208 Seiten, 19 Euro
Katalysator für Konflikte
In seinem neuen Roman „Sechs Koffer“ widmet sich Biller wieder einem Familiengeheimnis. Ein junger Mann, der Maxim Biller ähnelt, versucht herauszufinden, welches Familienmitglied Schuld am Tod des Großvaters hat. Schmil Grigorewitsch, vom Enkel stets „der Tate“ genannt, hatte mit Schwarzmarktgeschäften die Familie vor den Unwägbarkeiten des Lebens zu schützen versucht.
Geld, erklärt der Tate, dürfe niemals mehr als Mittel zum Zweck sein: „Das eine ist, für Geld zu sterben, um zu leben. Das andere ist, dafür zu töten.“ Wie in jeder Familie ist auch in dieser Geld Katalysator für unausgesprochene Konflikte und damit ein potenzieller Sprengsatz.
Den jugendlichen Protagonisten und Ich-Erzähler von „Sechs Koffer“ treibt also die Frage um, wer des Großvaters Geschäfte an den KGB verraten hat. Kapitel für Kapitel werden nacheinander die Geschichten der Söhne und ihrer Frauen erzählt, um herauszufinden, wer es gewesen sein könnte und aus welchen Motiven. War es Natalia Gelernter, die ehemalige Freundin des Vaters, die dann, weil sie ihn nicht bekam, dessen Bruder geheiratet hatte? War es einer der drei Brüder des Vaters – Lew, Wladimir, Dima – oder gar Vater Sjoma selbst?
Mit dem Vatermord und der nachträglichen Überhöhung der Vaterfigur beginnt laut Freud die Kultur. In Billers Romanen nimmt der Vatermord immer wieder neue fiktive Wendungen, was dem Programm des Autors folgt, das er in Heidelberg skizziert hat: „Das Bild vom übermächtigen, heldenhaften Vater an sich in Frage zu stellen und damit ein absolutes, vermeintlich unhinterfragbares Weltbild.“
Sexarbeit im Lager der Nazis
„Sechs Koffer“ hat zwei Erzähler, einen gottgleichen auktorialen Erzähler und einen zum Interpretieren der Welt gezwungenen Ich-Erzähler, Repräsentanten von Über-Ich und Ich. Die schrecklichsten Geschichten, die der Pubertierende erzählt, sind Geschichten vom elterlichen Verrat in Liebesangelegenheiten und die anscheinend daraus, vielleicht aber auch aus einem grundsätzlichen Leiden am Leben resultierenden „Horrorszenen“ zwischen Vater und Mutter am heimischen Küchentisch.
Die detektivische Suche nach dem Familienverräter ist für Biller einmal mehr Anlass, die Geschichte einer jüdischen Familie im kaputten zwanzigsten Jahrhundert zu erzählen. Natalia Gelernter hat die Lager der Nazis durch Sexarbeit überlebt. In der ČS SR muss sie mit den einflussreichen Männern der Filmindustrie schlafen, um arbeiten zu können. Die Roman-Billers sind säkulare Menschen und ständig Gegenstand antisemitischer Anfeindungen in ihren sozialistischen Ländern.
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Irgendwer muss ja dafür verantwortlich gemacht werden, dass der Kommunismus nicht funktioniert. „Nur weil sie die Menschen nicht glücklich machen können, brauchen sie jemanden, dem sie die Schuld an ihrer lächerlichen Unfähigkeit geben können. Alles, was sie über Slánsky, Trotzki, und die jüdischen Ärzte sagen, müssten sie über sich selbst sagen: Sie sind gierig! Sie sind die Lügner und Trickser! Sie zerstören uns alle“, zitiert Natalia ihren ehemaligen Geliebten Slomja in einem Brief aus dem kanadischen Exil, den der nun nicht mehr junge Ich-Erzähler nach dem Tod des Vaters von seiner Mutter in die Hand gedrückt bekommt. Klingt kompliziert, ist aber wie immer bei Biller einfach und pointiert geschrieben.
„Wo fängt Verrat an?“
Maxim Biller ist ein Meister der kurzen Texte. Mit Kurzgeschichten hat er seine literarische Karriere begonnen. Seine Kolumnen sind oft sehr lustig. Eines seiner besten Bücher, und nebenbei bemerkt gewagter als vieles, was in deutscher Sprache über das Schicksal der Juden unter der Herrschaft der Nationalsozialisten geschrieben worden ist, heißt „Im Kopf von Bruno Schulz“ und ist eine Novelle. Der Roman „Sechs Koffer“ ist gut zweihundert Seiten lang.
Immer wieder kehrt dessen jugendlicher Protagonist zu einem Buch zurück, das er wegen eines noch zu schreibenden Aufsatzes lesen muss. Es sind die „Flüchtlingsgespräche“ von Brecht, von dem auch das dem Roman vorangestellte Zitat stammt: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen.“ Brecht, jener stalinistische Schriftsteller und Kritiker des Stalinismus, spricht für die Skepsis des Autors Biller, wenn er sagt: „Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich habe mich noch selten getäuscht.“ Es gibt schlechten und es gibt guten Verrat, das hat Brecht auch noch gesagt.
Nach der Lektüre dieses Romans beginnt man, wie sein Autor in der Tradition der „guten alten, halb vergessenen Thoragelehrtenschule“ Gegenfragen zu stellen: Wo fängt der Verrat an? Besteht im Leben der Menschen die Möglichkeit, die anderen nicht zu verraten? Und wenn ja, wie stellt man das an?
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