piwik no script img

Kommentar AntisemitismusSozialismus der dummen Kerls

Kommentar von William Totok

In den sozialistischen Diktaturen hat nie eine Aufarbeitung der Judenverfolgung stattgefunden. Kein Wunder, dass antijüdische Vorurteile in Osteuropa weiter wabern.

D er Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls", soll August Bebel gesagt haben. Der nicht belegte Ausspruch des Mitbegründers der deutschen Sozialdemokratie veranschaulicht ein Besorgnis erregendes Phänomen, das im 19. Jahrhundert die Umrisse einer Ideologie anzunehmen begann. In weniger als 100 Jahren bewahrheiteten sich die Befürchtungen Bebels in Auschwitz.

Die Zahl derer, die in Osteuropa die Verbrechen an den Juden leugnen oder sogar rechtfertigen, wird immer größer. Dies ist insbesondere in Ländern wie Rumänien, Ungarn, den baltischen Staaten oder Kroatien zu beobachten. Der Grund: In Zeiten der kommunistischen Diktatur hat es keine Vergangenheitsaufarbeitung gegeben.

In der offiziellen Geschichtsschreibung wurden die Bewohner dieser Länder als Opfer der deutschen Nazis dargestellt, die für die Errichtung des Sozialismus gekämpft und gelitten haben. Von Judenverfolgungen war in dieser Geschichtsklitterung kaum die Rede. Auch über die eigenen "willigen Vollstrecker" breitete man lieber den Mantel des Schweigens.

WILLIAM TOTOK

ist Schriftsteller und Publizist. In seiner Heimat Rumänien gehörte er in den 1970er Jahren zum Dissidenten-Literaturkreis "Aktionsgruppe Banat", seit 1987 lebt er in Berlin. Zuletzt forschte er zur Geschichte des Holocaust in Rumänien.

Im Schatten der Diktatur hat der gesamte Katalog antijüdischer Vorurteile und Ansichten überlebt. Belege dafür liefern unzählige antisemitische Schriften, die seit 1989 den Markt überfluten. Darin werden skandalöserweise Juden in alter Manier als "Blutsauger", "Kommunisten", "Wucherer", "Rassenschänder" oder "Christusmörder" diffamiert, die an allen Ärgernissen des Übergangs zu einer neuen Wirtschaftsordnung die Schuld tragen. Juden werden je nach Belieben beschuldigt, den Kommunismus eingeführt oder abgeschafft zu haben. Solche Ideen finden sich sogar in akademischen Kreisen.

In diesen Ländern treten die "Kerls", vor denen Bebel warnte, erneut mit wehenden Fahnen an. Ihr beliebtestes Zielobjekt sind wieder: die Juden.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

14 Kommentare

 / 
  • A
    Anna

    @Israel Beobachter: Da kann ich Dir nur zustimmen. Ich kann auch die Aufrufe zu Demos gegen Nazis, von Linken, die kein Problem mit haben mit der Hamas oder den Grauen Wölfen zusammen zu arbeiten, fast nicht mehr ertragen. Sieht man die öffentlichen Auftritte im Netz von Palästinensern,die Hand ausgestreckt zum Hitlergruß usw. einfach widerlich. Aber anscheinend sind diese Auftritte für viele Linke kein Problem. Und die Taz schweigt hierzu in meinen Augen absichtlich. Widerlich....

  • S
    Stefan

    Dieser Antisemitismus ist zweifelsohne ekelhaft.

    Ist jedoch eine deutsche "Israelkritik" besser? Nein, nur verlogener. Wenn die Deutschen aus dem Holocaust gelernt haben, dass sie den Israelis (Juden) genau auf die Finger gucken müssen, dann ist das schon mehr als heuchlerisch.

  • N
    Nakam

    leider vergisst der autor eine wesentliche komponente des osteuropaeischen antisemitismus; die christliche religion. deren einfluss war grundlegender fuer den antisemitismus. die ustascha oder auch die pfeilkreuzler standen nicht im widerspruch zur katholischen kirche und waren extrem antikommunistisch. nach 1945 war der antisemitismus zwar mobilisierbar, doch hatte er keinen mörderischen charakter und wurde auch nicht zum ideologischen fundament. die heutigen antisemiten sehen sich nicht in der tradition der stalinisten, sondern in der jeweiligen nationalen und religioesen.

  • H
    Harald

    Zum Glück ist das im Westen Europas ganz anders!

     

    Am fortschrittlichsten geht's in den Niederlanden zu, wo jüdisches Leben besonders wertgeschätzt wird:

    http://www.zeit.de/2010/51/Niederlande-Juden-Antisemitismus

     

    Aber auch in Deutschland sind Verbrüderungsszenen wie diese, keine Seltenheit:

    http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,601058,00.html

     

    Und wenn der Jude mal eins aufs Dach kriegt, daß wissen wir, ist er selber schuld. Muss er denn Jude sein?

    http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/jude_sein_gefaehrdet_ihre_gesundheit/

  • G
    godzilla

    es lohnt nicht, jedem zu widersprechen, der irgendwas behauptet.

     

    irgendwo

    godzilla

  • T
    Thom

    Unerhört, daß in den von Deutschland überfallenen Ländern die Deutsche Judenverfolgung nie aufgearbeitet wurde!

  • IB
    Israel Beobachter

    Nicht nur in Osteuropa, und übergangslos ist es heute Israel, welches an allem Schuld ist, seltsam? Nein, nachvollziehbar..... Die Taz haut doch genauso oft in diese Schiene.

  • HK
    Henner Kroeper

    Es wird wohl kein Begriff mehr missbraucht als der des Antisemitismus.

    Vor Allem zur Ablenkung vom Faschismus. Ein Beispiel: Wa kann es Anderes bedeuten, wenn in Ägypten ein Gerücht kursiert Gaddafi sei ein Jude.

  • A
    antifa

    Dann sind bestimmt wir Ostdeutschen Schuld, weil die Zahl derer auch in der Bundesrepublik steigt?

  • S
    suswe

    die Kurzanalyse behält ihre Gültigkeit, ob sie nun von Bebel stammt oder nicht.

  • MH
    martin höll

    Sehr überzeugende Argumentation. Wegen dem mitlerweile 22 Jahre nicht mehr existierenden Realsozialismus breitet sich jetzt, 22 Jahre später Antisemitismus aus. Vielleicht ist der Antisemitismus auch einfach Folge der -- wie der Autor selber schreibt -- seit 1989 möglichen Verbreitung von antisemitischen Gedankengut in Zusammenhang mit einer Enttäuschung über die Ergebnisse des Reformprozesses? Und wer ist für die um sich greifende Verarmung schuld? Natürlich die Juden. Hören Sie mal "Radio Maria" in Polen.

  • H
    hto

    "In Osteuropa wurde die Judenverfolgung nie aufgearbeitet"

     

    - ist doch LOGISCH, weil die zur Sowjetzeit auch zu sehr mit dem "freiheitlichen" Wettbewerb beschäftigt waren und im Sinne der Diktatur des Kapitals auch SOLLTEN, damit sie verlieren wie sie eben verloren haben!?

     

    Übrigens hat sich bisher auch niemand mit dem "Christentum" beschäftigt - die Wahrheit des Jesus Christus sieht doch extrem sozialistisch aus und hat mit dem Alten Testament nur sehr wenig zu tun, wurde aber schon zu seinen Lebzeiten wieder in die "natürliche Ordnung" der Hierarchie von und zu materialistischer "Absicherung" im geistigen Stillstand eingegliedert!?

  • A
    aleister

    Ein Artikel der schlimme Befürchtungen auslöst.

    Jedoch finde ich die angeführte verallgemeinernde Begründung für diese Auswüchse überdenkenswert. Nicht etwa fehlende Aufarbeitung des Holocaust unter einem kommunistischen Regime ist dafür verantwortlich, sondern der sehr tief über Jahrhunderte und verschiedene Systeme getragene und verwurzelte Antisemitismus in speziell jenen Ländern. Denn: Ist es nicht auffällig, das gerade in jenen Ländern, in denen zudem der Einfluß der christlichen Kirchen in die Gesellschaft nach wie vor stark und mit dem Aufblühen eines neuen nationalen Bewußtseins nach Zerfall der Blöcke in den frühen 90er Jahren, noch stärker geworden ist, daß gerade in jenen Ländern unter deutscher Besatzung von der jeweiligen nichtjüdischen Bevölkerung aus eigenem Antrieb höchstmotiviert die brutalsten Übergriffe auf die eigenen jüdischen Nachbarn verübt worden sind. Übergriffe von solcher Bestialität, daß in belegten Einzelfällen sogar die deutschen Besatzer diese Exzesse unterbanden.

    Nein, meiner Meinung nach - und ja, ich weiß, das ist nicht p.c. - sind diese Länder einfach noch nicht reif. Noch nicht reif für Europa als einem Staatenverbund gegen nationales Denken und für Toleranz ...und überhaupt. Es ist vielmehr traurig und beschämend, daß solche Dinge in EU-Staaten vor sich gehen.

    • Z
      Zoltan
      @aleister:

      So einfach ist´s halt doch nicht ganz:

       

      Wie genau hätten die kommunistischen Diktaturen denn die Judenverfolgung überhaupt aufarbeiten können, ohne nicht gerade jene Stereotypen zu bedienen, die ihr zugrunde lagen?

       

      Die besagten doch genau, dass Kommunisten und Juden ein und dasselbe seien und nur am Untergang der Nation werkelten.

       

      Nun sehen Sie sich doch einfach mal an, wer direkt nach dem Krieg in den jeweiligen Ländern eingesetzt wurde. Gerade in Ungarn - wo antisemitische Verschwörungstheorien heute wieder beklemmend fröhliche Urstände feiern - hat die ganze kommunistische Elite doch genau jenem Klischee entsprochen: Von Bela Kun (vormals Schwarz) über Mátyás Rákosi (ehemals Rosenfeld und "Stalins bester Schüler") bis hin zu Ernö Gerö (ehemals Singer).

       

      Wie hätten diese Funktionäre nun ausgerechnet aufwärmen sollen, wie sehr sie selber genau diesem Klischee entsprachen?!