Roman „Die Überlebenden“: Bullerbü ist anderswo
Alex Schulmann ist ein Star in Schweden. Sein Roman „Die Überlebenden“ erzählt bezwingend klar über eine Kindheit in Ungeborgenheit.
Es könnte ein Bild schönster schwedischer Sommeridylle sein: Ein rotes Holzhaus steht unter Bäumen auf einer Wiese; im Hintergrund ein See, umgeben von Wald. Auf der Wiese sitzen im letzten Fleck abendlichen Sonnenlichts eine Frau und ein Mann an einem Tisch. Auf dem Schoß der Frau liegt ein Hündchen. Auf dem See schwimmen drei kleine Jungen um die Wette.
Doch das hier ist nicht Bullerbü. Das Bild trügt; es täuscht für Momente eine Realität vor, die nur im Auge eines potenziellen Betrachters existiert. Nur Minuten später hat sie sich aufgelöst, und dem Beobachter würde auffallen müssen, dass die Erwachsenen ins Haus gegangen sind und die Kinder weit draußen auf dem dunkel werdenden See sich selbst überlassen haben.
Diese emblematische Szene steht am Anfang von Alex Schulmans Familienroman „Die Überlebenden“. Er handelt von drei Brüdern, vor allem von Benjamin, dem mittleren, der in jenem Sommer, von dem vor allem die Rede sein wird, neun Jahre alt ist. Es ist seine Perspektive, der wir folgen. Auch seiner Perspektive auf die Brüder Pierre, der zwei Jahre jünger, und Nils, der vier Jahre älter ist.
Alex Schulman, in Deutschland als Autor bisher unbekannt, weil unübersetzt, ist in Schweden ein Promi. Einer bekannten Künstler- und Medienfamilie entstammend, hat Schulman sich als Blogger, Fernsehmoderator und Autor selbst einen Namen gemacht – und bereits eine Handvoll Bücher veröffentlicht, die sämtlich familienautobiografischen Hintergrund haben und von der Kritik mal als „Roman“, mal als „Memoir“ bezeichnet wurden, jedoch sämtlich nicht fiktional sind. Eines handelt von der alkoholkranken Mutter des Autors und trägt den Titel „Vergiss mich“.
Alex Schulman: „Die Überlebenden“. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. dtv, München 2021. 298 Seiten, 22 Euro
Ins Reine kommen
Aber eben das scheint sehr schwierig zu sein für den Sohn, denn auch in „Die Überlebenden“ bildet die Mutter, beziehungsweise ihre schwierige Beziehung zu den Kindern, das eigentliche Zentrum des Romans.
Es ist tatsächlich insofern der erste „echte“ Roman, den Schulman geschrieben hat, als viele der Ereignisse, die darin geschildert werden, erfunden sind. Die Personen, die auftreten, sind es hingegen nicht zu hundert Prozent, und der Autor macht in Interviews keinen Hehl daraus, dass er auch in diesem Buch daran arbeitet, mit seiner Kindheit ins Reine zu kommen, nur eben in fiktionalisierter Form.
Drei Brüder, einander entfremdet, begegnen sich nach langer Zeit wieder, als ihre Mutter stirbt. Die Aufgabe der Beerdigung vereint sie vorübergehend und führt sie zum Sommerhaus der Familie, in dem sie als Kinder sämtliche Sommer zu verbringen pflegten und in das seit vielen Jahren niemand von ihnen einen Fuß gesetzt hat. Die Gründe dafür enthüllt die Erzählung nach und nach, und Schulman hat eine bestechend klare Form dafür gefunden.
Die Rahmenerzählung läuft rückwärts, angefangen beim Eintreffen eines Polizeifahrzeugs im Sommerhaus, weil zwei der Brüder eine brutale Prügelei begonnen haben, bis zum vorangegangenen Tod der Mutter im Krankenhaus. Eine Rückblende kommt der Rahmengeschichte chronologisch aufwärts entgegen, angefangen beim traumatischsten aller Kindheitssommer der Brüder bis in die Therapiestunden des erwachsenen Benjamin nach einem Suizidversuch.
Wie Hänsel und Gretel
Wie beim Mischen eines Spielkartenblatts legt sich von jeder Seite des geteilten Erzählstapels jeweils eine Karte über die letzte von der anderen Seite, bis das Deck vollständig ist.
Diese Vorgehensweise ist nicht nur von bezwingender Klarheit, sondern wirkt gleichzeitig fesselnd auf eine sehr klaustrophobische Art. Das Ausgeliefertsein der Kinder an die Launen der Erwachsenen, die mangelnde Fürsorge, das Gefühl der Isolation im abseits der Zivilisation gelegenen Sommerhaus beschreibt Schulman so intensiv, dass er damit sämtliche tradierten Klischees von herrlichem kindlichen Freispiel in der Natur erzählend vernichtet.
Wenn die Brüder allein durch den Wald streifen, so wird damit kein Bullerbü-seliges Abenteuerfeeling evoziert, sondern vielmehr ein Hänsel-und-Gretel-mäßiges Ausgesetztsein. Die Entfremdung zwischen den erwachsenen Brüdern erklärt der Roman am Ende durch ein großes, zu sehr beschwiegenes familiäres Trauma. Denn irgendwann in jenem einen Sommer geschieht eine Katastrophe …
Emotionale Authentizität
Eine schockierende Wendung, die Schulman seinem Roman gibt, bietet im Nachhinein auch eine Erklärung für die Entfremdung der erwachsenen Brüder in der Rahmenhandlung, ist aber gleichzeitig einer der schwächeren Momente des Romans – interessanterweise deswegen, weil es sich zu offensichtlich um eines der fiktionalen Elemente handelt.
Die Stärke von Schulmans erstem „echtem“ Roman liegt nämlich, abgesehen von seinem hohen Formbewusstsein, gerade in seiner emotionalen Authentizität, also wohl tatsächlich im dahinterliegenden autobiografischen Untergrund.
Dass ausgerechnet das Formelement „überraschende Wendung/schockierende Entdeckung“ mit einem eindeutig fiktiven Inhalt gefüllt wurde, verursacht einen kleinen, aber spürbaren Bruch und gibt der ansonsten so stringenten Erzählung zum Ende hin noch den banalen Beigeschmack von etwas geplant „Erfundenem“ an ganz zentraler Stelle. Mehr Fiktion ist eben nicht immer gleich mehr Literatur.
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