Roman „Die Netanjahus“: Literarische Wirkungsmacht
Der Roman „Die Netanjahus“ erklärt mehr über die Komplexität des Nahostkonflikts als Sachbücher. Er vergrößert die Welt, statt sie zu reduzieren.
A mbivalenz, sagte neulich der Schriftsteller Pankaj Mishra zu mir, Ambivalenz und Ambiguität und auch Ironie, das sind die denkerischen Mittel, die wir heute brauchen, um klarzusehen in diesen Zeiten, in denen Klarheit das Letzte ist, was es gibt und was es braucht. Ein Widerspruch? Oder Ambivalenz?
Also, was meinte Pankaj? Es ging ihm darum, wie wir selbst, du und ich, die Welt wahrnehmen. Öffnen wir uns der Welt, indem wir uns dem stellen, was an widerstreitenden Wahrheiten verfügbar ist? Oder suchen wir die eine Wahrheit, weil sie uns hilft, unsere Welt so zu erhalten, wie wir sie uns gebaut haben?
Die Antwort auf diese Fragen, medial und politisch, ist ziemlich klar, würde ich sagen: Die mediale Logik ist eine der Reduktion. Und bei aller Kritik an den sozialen Medien und am Digitalen an sich, wo es genau darum geht, dass hier oft die Wirklichkeit noch mal polemisch aufgeladen und damit praktisch geschrumpft wird, würde ich doch sagen, dass genau hier auch die Ambivalenz erzeugt wird, die Pankaj einfordert.
Aber natürlich meinte er eigentlich etwas anderes. Er ist ein großer Leser, und genau hier, im Lesen, entsteht für ihn diese Möglichkeit von Ambiguität, die es braucht, um auch politisch unterschiedliche Wahrheiten wachzurufen und gleichzeitig seinen eigenen moralischen Weg zu finden. Denn Ambivalenz bedeutet ja nicht Relativismus. Ambivalenz bedeutet, dass alle Wahrheiten wahrer werden und wir uns in diesem Strudel von Wahrheiten zurechtfinden müssen.
Nahost wird ohne Zwischentöne diskutiert
Mir fiel all das ein, als ich vor ein paar Tagen den Roman „Die Netanjahus“ von Joshua Cohen anfing zu lesen. Der Roman erzählt von einem jüdisch-amerikanischen College-Professor in den 1950er Jahren und der echten wie fiktiven Geschichte, dass der Vater des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu tatsächlich als Geschichtsprofessor und Spezialist für die Spanische Inquisition eine Weile in den USA gelehrt hat.
Der Roman ist sehr lustig und sehr traurig. Er beschreibt das unauflösliche Dilemma von Juden, ob in der Diaspora oder in Israel. Er schildert den subtilen und offenen Antisemitismus, er reflektiert über den Umweg der Spanischen Inquisition, was jüdische Metaphysik und auch jüdische Mythen sind, und er ergründet die verschiedenen Strömungen des Zionismus, gespalten in vieler Weise, aber vor allem, so beschreibt es Cohen, zwischen der westeuropäischen jüdischen Tradition und der osteuropäischen.
Ich wusste das, irgendwie, aber so ein Wissen verliert sich auch, es reibt ab, gerade wenn die Debatten so erhitzt geführt werden, wenn es um Israel geht. Was wäre also Ambivalenz in einem Konflikt, der maximalistisch geführt wird, oft ohne Zwischentöne diskutiert, ohne Innehalten und historische oder menschliche Reflexion? Wäre Ambivalenz hier nicht ein Mittel? Aber wie kann man sie politisch fassen und formen?
Im Roman denkt die Hauptfigur Ruben Blum über die verschiedenen Traditionen und Strömungen des Zionismus nach, dieses Wort, das heute auf Häuserwände in aller Welt geschmiert wird, voller Wut und Verachtung und ohne Wissen, letztlich, über das, was es bedeutet – oder nur das, was es heute für viele Menschen bedeutet, eine Metapher für den Krieg in Gaza und die Schuld Israels.
Über die Widersprüche jüdischer Existenz schreiben
Cohen aber, und das ist das Werk der Literatur mehr als eines Sachbuches und der Sprache mehr als der historischen Erzählung, Cohen schafft es, den weiten Weg von heute zurück in die Vergangenheit zu nutzen, um ein Denken zu schärfen, das genau diese Schärfe vermissen lässt. Ein Denken, dass weich ist und elastisch, ein Denken ohne schnelle Urteile und voller Genauigkeit gerade dort, wo es keine Genauigkeit gibt.
Da ist zum einen der Kaffeehaus-Revolutionär Theodor Herzl, ein Kosmopolit, Journalist, in vielem der Erfinder des politischen Zionismus, der wenig über das traditionelle Judentum wusste, wie so viele anderen Juden in Wien, Budapest oder Zürich im späten 19. Jahrhundert. Und da ist zum anderen der Zionismus, wie er im Shtetl entstand, in Osteuropa, weit weg von den Metropolen und Kaffeehäusern, der Zionismus von Benzion Mileikowsky, der sich später Benzion Netanjahu nannte.
Cohen nutzt das Mittel des Romans, um über gegenwärtige Widersprüche jüdischer Existenz nachzudenken – aber letztlich ohne, wie auch, Ergebnis. Er ermöglicht es, in diesen Widersprüchen die je unterschiedlichen Wahrheiten zu finden, die Selbsttäuschungen und Hoffnungen, die irgendwann auch politisch ossifiziert Wirklichkeit werden, manchmal voller Emanzipation, manchmal voller Grausamkeit.
Umweg über die menschliche Psyche
Literatur, so gestaltet, ist damit ein Mittel, den Rohstoff des Politischen zu formulieren, in guter Distanz und doch in Sichtweise von aktuellen Ereignissen. Ich hatte lange nicht mehr diesen Eindruck davon, wie Literatur so wirken kann, auch weil ich sehr viel mehr Sachbücher gelesen habe in den vergangenen Jahren; oder weil ich die Romane nicht gefunden habe, die diese Wirkung hatten.
Aber gerade ein Konflikt wie der in Israel oder um Israel findet sich oft besser gespiegelt in der Literatur, scheint mir, als in den aktuellen Schlagzeilen, so wichtig sie sind, gerade was den schon lange jedes Maß überschreitenden Krieg in Gaza angeht, dieses schreckliche Töten. Es sind diese Umwege, über die menschliche Psyche, über das, was Literatur ausmacht, die einem selbst das Denken anders lehren.
Diese Art von Demut ist es, die Literatur ja auch bedeutet, eine Form von epischer Bescheidenheit, die das eigene Maß erst einmal einordnet in den Maßstab dessen, was vor einem war, was andere dachten, was deren Wirklichkeit war. Für mich war das, was „Die Netanjahus“ ausmacht, eine enorme Vergrößerung der Welt, die doch, wir wissen es alle, so viel komplexer ist, als wir sie uns machen.
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