Resignation in Belarus: Im Kreis
Die Menschen sind müde und haben den Glauben an Gerechtigkeit verloren. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 85.
I ch schreibe diese Kolumne und mir wird klar, dass wir uns seit August im Kreis drehen. Die Nachrichten überraschen niemanden mehr, ein Tag gleicht dem anderen. Die Menschen sind müde und verlieren den Glauben an Gerechtigkeit. Journalist*innen schreiben auf Facebook, dass sie emotional und professionell ausgebrannt seien. Sie bitten ihre Kolleg*innen darum, ihnen gegenüber etwas nachsichtiger zu sein. Und sie sagen, dass es schon normal geworden sei, wenn sie auf ihre Nachrichten keine Antwort bekämen. Ausgebrannt eben.
Zum Beispiel: Es wird darum gebeten, nicht am Wochenende und an Feiertagen anzurufen sowie nicht nachts zu schreiben. Alle sind ermüdet von den schlechten Nachrichten, doch diese nehmen kein Ende. Es fühlt sich so an, als ob die Staatsmacht immer weiter drückt, bis alle endlich klein beigeben.
![](https://taz.de/picture/4371510/14/26001150-1.jpeg)
Записи из дневника на русском языке можно найти здесь.
Am vergangenen Freitag begann im Minsker Justizpalast der Prozess gegen Studierende. Es gibt 12 Beschuldigte – Student*innen der Universität sowie Absolvent*innen der Fakultäten für Medizin und Pädagogik. Ihnen wird vorgeworfen, im November 2020 Aktionen organisiert und vorbereitet zu haben, die die öffentliche Ordnung massiv verletzen. Die Betroffenen sind seit mehr als sechs Monate in Untersuchungshaft, aber erst jetzt fand die erste Verhandlung statt.
In den Gerichtssaal wurden nur Verwandte hinein gelassen, auf der Straße versammelten sich jedoch Hunderte engagierte Belarus*innen. Vor dem Gericht standen schon am frühen Morgen Fahrzeuge der Miliz und der Spezialkräfte des OMON. Angesichts dieser Anzahl von Menschen gab die Miliz per Megaphon bekannt, dass niemand mehr in den Gerichtssaal herein gelassen werde und forderte die Menge auf, auseinander zu gehen.
Aber die Menschen blieben. Festnahmen begannen. Einige liefen weg. Aber Ljubow Kasperowitsch, Journalistin des Onlineportals tut.by, die ihre Arbeit tat, gelang das nicht. Sie stolperte und fiel hin.
Ljuba ist schon mehr als 72 Stunden hinter Gittern und kommt dieser Tage vor Gericht. Die Anklage lautet auf Teilnahme an verbotenen Massenveranstaltungen – Artikel 24.23, Absatz 1. Derzeit weiß noch niemand, wie das alles endet.
Belaruss*innen werden bestraft und festgenommen: wegen falscher Socken, eines Protests mit Süßigkeiten (im vergangenen Oktober wurde eine 75jährige Belarussin zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie zu einer Protestaktion Süßigkeiten in weiß-rot-weiß mitgebracht hatte, Anm. d Red.) und „unkorrekter Hosen“. Wegen einer weiß-rot weißen Flagge (offizielle Fahne der belarussischen Volksrepublik 1918 bis 1991, Anm. d. Red.) am eigenen Haus und weil sie sich mit mehr als drei Menschen in den Höfen ihrer Wohnhäuser treffen, was schon als Streik gilt. Sogar dafür, dass sie festgenommene Landsleute unterstützen, werden Menschen bestraft.
„Ich gehe ins Geschäft, um einzukaufen. Ich hoffe, dass das keinen Straftatbestand erfüllt, wenn ich in der Schlange stehe“, kommentieren Belaruss*innen die Nachrichten.
Derzeit befinden sich 16 Medienvertreter*innen hinter Gittern. Drei Journalistinnen sitzen eine Haftstrafe ab: Darja Schultzowa und Katerina Andreewa von Belsat wegen eines Streams über eine Aktion zum Gedenken an Roman Bondarenko. (Bondarenko starb am 12. November 2020 in Minsk, nachdem er von Sicherheitskräften in Zivil zusammen geschlagen worden war. Laut offizieller Version soll er betrunken gewesen sein, Anm. d. Red.). Sie wurden zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt.
Bereits ein halbes Jahr sitzt Katerina Borisewitsch für einen Beitrag darüber, dass Roman Bondarenko nüchtern gewesen sei. Sie soll als nächste frei kommen – das hoffen wir jedenfalls. (Katerina Borisewitsch kam am Mittwoch auf freien Fuß, Anm. d. Red.) Auf ihren Prozess wartet auch die Führung des Presseklubs, die Journalist*innen Ksenia Luzkina und Andrzej Potschobut sowie der Medienmanager Andrei Aleksandrow. Alle sind müde …
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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