Reparationen für US-Sklaverei: Versöhnung ist nie verkehrt
Kann man das Unrecht der Sklaverei wiedergutmachen? In den USA nimmt eine weiße Farmerin die Sache selbst in die Hand – und wird bedroht.
Wenn Marshall ihre Tiere versorgt und zusammen mit ihrem Beagle durch den Kuhmist stapft, wirkt sie glücklich. Wäre da nicht diese eine Sache, die seit Jahren an ihr nagt: die Vergangenheit ihrer Familie. „Als meine erste Tochter zur Welt kam, hatte ich Probleme mit dem Stillen“, erinnert sich Marshall. Ihr Großvater habe sie daraufhin trösten wollen. „Er sagte mir, dass das in der Familie liegt. Schon meine Urururgroßmutter hatte nicht genug Muttermilch produziert.“ Die damals praktikable Lösung: Man kaufte Hester, eine Sklavin zum Stillen der Kinder.
„Ich war schockiert“, sagt Marshall, denn über Sklaverei war bei ihr zu Hause zuvor nie gesprochen worden, so wie in vielen weißen amerikanischen Familien. Direkt betroffen fühlte sie sich trotzdem lange Zeit nicht: Zwar kommt sie ursprünglich vom Land, arbeitete aber jahrelang als Grundschullehrerin in der Großstadt Atlanta. Erst als sie 2019 die Farm ihrer Eltern übernahm, zog sie zurück ins ländliche Georgia – in eine Gegend voller Traktoren, Pick-up-Trucks und Trump-Schildern im Vorgarten.
Beim Aufräumen stieß sie auf ein altes Sklavenregister der Gemeinde. Ihre Familie besaß sieben Sklaven: drei Erwachsene und vier Kinder. „Ich konnte das nicht einfach ignorieren“, sagt Marshall. Sie fühlt sich schuldig und stellt sich fortan eine Frage, die nicht nur sie, sondern die gesamte Nation umtreibt: Kann man das Unrecht der Vergangenheit wiedergutmachen? Seit Jahren debattieren Politikerinnen und Politiker über diese Frage. Und Stacie Marshall, die weiße Farmerin aus Georgia, war plötzlich mittendrin.
Ein akademisches Thema
Reparationen für African Americans? In der Vergangenheit war das in den USA allenfalls ein akademisches, theoretisches Thema. Doch der Fall George Floyd – der Schwarze, der unter dem Knie eines Polizisten erstickte – hat eine neue Dynamik in Gang gebracht. Bei Black-Lives-Matter-Protesten geht es nicht mehr nur um Polizeigewalt und Alltagsrassismus. Immer öfter bringen die Protestierenden auch eine finanzielle Kompensation für die Nachfahren von Sklaven ins Spiel.
Schwarze werden in den USA nicht nur öfter verhaftet, inhaftiert und von der Polizei erschossen. Auch wirtschaftlich stehen die meisten deutlich schlechter da. Während der Pandemie sind im Verhältnis deutlich mehr African Americans an Covid-19 gestorben als weiße US-Amerikaner. Um die Missstände zu ändern, haben erste Städte und Bundesstaaten nun Arbeitskreise für Reparationen eingerichtet. Geld fließt dadurch trotzdem erst einmal nicht. Es geht zunächst um die Frage nach dem Wie.
Im Zweiten Weltkrieg wurden in den USA über 120.000 japanisch-stämmige Amerikaner in Lagern interniert, weil ihnen Sympathien für den Feind unterstellt wurden. Sie erhielten vom Staat später eine Entschädigung von rund 20.000 Dollar. Rechnet man diese Summe auf heutige Verhältnisse hoch, müsste man African Americans mindestens 100.000 Dollar zugestehen. So kämen schnell Trillionen von Dollar zusammen. Ist diese Summe angemessen? Wer sollte sie bezahlen? Und was ist mit Native Americans, von denen ebenfalls viele unter den Folgen der Vertreibung leiden?
Stacie Marshall, die Farmerin aus Georgia, will zunächst im Kleinen helfen. Ihr erstes Ziel: die Nachfahren „ihrer“ ehemaligen Sklaven ausfindig machen, um sie zu entschädigen. Wie genau, weiß sie nicht. Mit einer Entschuldigung? Mit Geld? Mit einem Teil ihres Landes, das sie bewirtschaften könnten?
Im Sklavenregister
Schon die Namenssuche stellte sich als nahezu unlösbar heraus. „Im Sklavenregister sind nur Nummern verzeichnet“, erklärt die 41-Jährige. Hester – die Schwarze Frau, die ihre Urahnen stillte – taucht namentlich nicht auf.
Als Nächstes sprach Marshall mit ihren Nachbarn. Doch die meisten Weißen im Dorf wollen von ihrem Engagement nichts hören. „Viele hier haben selbst nicht viel. Denen brauche ich nicht mit weißen Privilegien zu kommen.“
Auf dem Friedhof sind die Soldatengräber aus dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) mit Südstaatenfahnen dekoriert. „Diese Leute haben für die Beibehaltung der Sklaverei gekämpft“, sagt Marshall. „Aber die Leute glorifizieren die Vergangenheit noch immer.“ Direkt neben den geschmückten Gräbern liegen blanke, ungeschliffene Steine: kein Name, kein Datum, keine Fahne. „Hier wurden die Sklaven neben ihren Besitzern begraben“, sagt Marshall.
Melvin Mosley, der Schwarze Pfarrer im Dorf, riet ihr, sich auf das Gute zu konzentrieren. Also lud Marshall im Frühjahr 2020 eine Gruppe von Studierenden auf ihren Hof ein. „Der Mord an George Floyd war gerade einmal zwei Wochen her“, sagt die Farmerin. „Die meisten Leute haben danach in den sozialen Medien diskutiert, ohne sich je persönlich zu sehen. Das wollte ich ändern.“
Wirtschaftliche Not
Zusammen mit Mosley und anderen Schwarzen Nachbarn besuchte sie den Friedhof und eine zusammengefallene Holzhütte auf dem Bauernhof. Dort lebte bis vor einigen Jahren der Schwarze Schulbusfahrer des Dorfs. Die Sklaverei ist schon lange vorbei, die wirtschaftliche Not bei vielen African Americans aber geblieben.
Inzwischen hat Stacie Marshall drei „Racial Reconciliation Workshops“ auf ihrer Farm gegeben. Zwischen Kuhstall und Kinderbetreuung bewirbt sie sich um Fördergelder, um die alte Behausung als Freilichtmuseum herzurichten. Ihr Mann, ein Psychotherapeut, und ihr pensionierter Vater unterstützten sie nach Kräften. Doch in der erweiterten Familie haben sich einige von ihr entfremdet. „Ein Cousin schickte mir eine Mail und schrieb, man solle mich lynchen“, sagt Marshall. Die fröhliche Farmerin ringt nun mit den Tränen.
Unterdessen scheint sich in den USA ein neuer Trend zu etablieren. Seit dem Mord an George Floyd überweisen weiße Amerikaner zunehmend Geld an Schwarze – per Bezahl-App. US-Medien berichten, dass Wildfremde manchmal 20, manchmal 50, manchmal sogar mehrere Hundert Dollar spenden. Eine Art Reparation im Kleinen. Doch solche Zuwendungen sind umstritten. Manche Aktivistinnen und Aktivisten werfen den Spendern vor, ihr schlechtes Gewissen reinwaschen zu wollen. Andere wollen kein Mitleid. Black Lives Matter wiederum ruft auf seiner Website zu Spenden auf. So komme das Geld immer dort an, wo es gerade am nötigsten gebraucht werde.
„Staatliche Reparationen sind nahezu unmöglich“, glaubt Melvin Mosley, der Schwarze Pfarrer, der Stacie Marshall bei ihrem Unterfangen unterstützt. „Wo sollte man da anfangen? Wie sollte man so tiefe Wunden heilen?“ Den individuellen Weg, den die weiße Farmerin aus Georgia beschreitet, hält er für zielführender als eine bestimmte Summe Geld. „Es geht darum, was wir heute tun können“, sagt Mosley. „Liebe und Versöhnung zu verbreiten, ist nie verkehrt.“
Und Stacie Marshall? Sie will auch in Zukunft ihre Workshops anbieten, um für Verständigung zwischen Schwarz und Weiß zu sorgen. Einen kleinen Erfolg hat sie errungen. Mithilfe von Bekannten, die sich stundenlang durch Sklavenregister, Ahnentafeln, Geburts- und Sterbeurkunden wühlten, hat sie herausgefunden, wer die Nachfahrin der ehemaligen Sklavin Hester ist. Es handelt sich um Betty Mosley, die Frau des Pfarrers.
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