Rekrutierung in der Ukraine: Kyjiw macht mobil
Das ukrainische Parlament hat das lange erwartete Mobilmachungsgesetz verabschiedet. Es ist höchst umstritten und tritt am 1. Juni in Kraft.
Bei diesem sogenannten „Mobilisierungsgesetz“ geht es vor allem um eine komplette Erfassung der männlichen Bevölkerung mit dem Ziel, jederzeit eine verstärkte Mobilisierung zu ermöglichen. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich junge Männer in Wohnungen niederließen, in denen sie sich wohnbehördlich nicht angemeldet hatten.
Nun gilt eine Aufforderung zur Musterung oder Einberufung auch dann als zugestellt, wenn die Post eine misslungene Zustellung meldet. Auch eine Verweigerung aus religiösen Gründen ist in dem neuen Gesetz nicht vorgesehen. Wer zehn Tage nach Aufforderung immer noch nicht bei der Wehrbehörde erschienen ist, muss damit rechnen, dass er von der Polizei abgeholt und dorthin gebracht wird. Diese darf Passanten nach einer Bescheinigung der Wehrbehörde fragen und bei einer fehlenden Bescheinigung die betreffende Person sofort zur Wehrbehörde bringen.
Befreiung vom Wehrdienst nur für engen Personenkreis
Eine Bestimmung zur Befristung von Wehr- und Kriegsdienst sucht man in diesem neuen Gesetz vergebens. Mobilisiert werden kann auch mobiles und immobiles Eigentum. Die Höhe der Entschädigung wird von den Behörden festgelegt. Befreit von der Mobilisierung, die Männer zwischen 25 und 60 betreffen kann, ist nur ein kleiner Personenkreis. Dazu gehören Väter von drei oder mehr Kindern, Alleinerziehende, Erziehungsberechtigte von minderjährigen Behinderten, Ehepartner von schwer Kranken und Kinder von pflegebedürftigen Eltern. Auch Abgeordnete und zwei ihrer Mitarbeiter können nicht mobilisiert werden.
Auch wenn dieses Gesetz offensichtlich seit längerem geplant ist, verlief die Arbeit daran weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Niemand der ukrainischen Führung wollte seinen Namen mit diesem unpopulären Gesetz in Verbindung gebracht sehen, berichtet der ukrainische Service von BBC. Umgegangen sei man mit diesem Gesetzentwurf wie mit einer „heißen Kartoffel“, so BBC. Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell.
Heftige Kritik von der Opposition
Und das sei nicht rechtens, klagt der oppositionelle Abgeordnete Oleksij Hontscharenko von der Partei Europäische Solidarität. So müsse das Dokument, das die neuen Formulierungen eines Gesetzes deutlich mache, laut Geschäftsordnung des Parlamentes zehn Tage vor der Abstimmung den Abgeordneten vorgelegt werden. Doch bei Gesetz № 10449 habe man den Abgeordneten nur zweieinhalb Stunden für das Lesen von 1600 Seiten gegeben, kritisiert Hontscharenko auf seinem Telegram-Kanal.
„Jetzt sagt man uns, es seien nicht genug Leute an der Front. Aber niemand kann zählen, kann uns sagen, wie viele genau fehlen. Sind es 100.000 oder eine halbe Million? Und woher sollen die 720 Milliarden Hrywnja für die Mobilisierung kommen, von der die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Frau Pidlasa, spricht?“, kritisiert Dmitro Rasumkow, von 2019 bis 2021 Parlamentssprecher, das neue Gesetz auf seiner Facebook-Seite. Und Andrij Ischtschenko, der mehrere Monate als Freiwilliger an der Front gekämpft hatte, sieht auf seiner Facebook-Seite in dem neuen Gesetz gar eine „Diktatur nach nordkoreanischem Vorbild“.
Obwohl sich Präsident Selenskyj gegen eine Mobilisierung von Frauen ausgesprochen hat, werden nun auch Stimmen laut, die genau dieses fordern. Zu den bekanntesten Befürworterinnen einer Einberufung von Frauen gehören die Abgeordnete Maryana Bezuhlya und Oksana Grigorjewa, Gender-Beauftragte beim Kommandeur der Landstreitkräfte. Dass Präsident Selenskyj das Gesetz unterschreiben wird, gilt als gesetzt. Und dann werden die Bestimmungen von Gesetz № 10449 im Juni rechtskräftig sein.
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